Das Schloss am See: Mittsommerherzen (German Edition)
lief und lief, so lange, bis ihre Lungen brannten und sich glühende Dolche in ihre Seiten zu bohren schienen. Erst dann gelang es ihr, sich ein wenig zu beruhigen und langsam zum Schloss zurückzugehen.
„Was mache ich denn jetzt bloß mit euch?“ Fragend schaute sie die junge Eselstute an, die ein paar Meter von ihr entfernt auf der Koppel stand und zufrieden auf einem Büschel Klee kaute. Lisbet ließ sich ins warme Gras sinken. Die wärmenden Strahlen der Sonne kitzelten auf ihrer Haut, sie hörte das Zwitschern der Vögel und das leise Rauschen des Windes in den Baumkronen. Doch ihr war, als würde das alles nur wie aus weiter Ferne zu ihr vordringen.
Ihre ganze Welt war von einer Minute auf die andere in sich zusammengestürzt. Alles, worauf sie sich verlassen, woran sie fest geglaubt hatte, schien nun plötzlich nichts mehr wert zu sein.
Warum, Hilda? Warum hast du das nur getan? Du wusstest doch, was mir Beringholm Slott bedeutet. Wie hart es für mich war, den Mut für einen Neuanfang aufzubringen, nachdem mein altes Leben von einem Tag auf den anderen in Trümmern lag. Nach meinem Unfall und Rubens Verrat an unserer Liebe …
Indem sie das Schloss ihrem Großneffen vererbt hatte, hatte die alte Dame all das aufs Spiel gesetzt, wofür sie in den letzten Monaten und Jahren gelebt hatte. Wofür
sie beide
gelebt hatten.
Das Schloss war mehr als nur ein Gnadenhof für Tiere, die niemand mehr haben wollte, viel mehr. Im Grunde waren die Tiere sogar ihr kleinstes Problem. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, sie alle irgendwo unterzubringen. Aber was sollte aus den Kindern werden?
Unwillkürlich ließ Lisbet ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern. Am Anfang war es nur die kleine Aleksandra Bjorklund gewesen. Fast fünf Jahre war es nun her, seit sie das schüchterne kleine Mädchen mit der Gehbehinderung zum ersten Mal in der Nähe der Pferdekoppel entdeckt hatte. Nach und nach verlor es seine Scheu – zuerst die vor den Tieren – und schließlich auch die vor fremden Menschen.
Aleksandra übernahm die Pflege von Charlotte. Sie kümmerte sich praktisch ganz allein um die gutmütige Schimmelstute und brachte sich dabei sogar selbst das Reiten bei. Anfangs brachten ihre Eltern sie noch vorbei und holten sie am späten Nachmittag wieder ab, später kam das Mädchen allein direkt nach der Schule mit dem Fahrrad, manchmal auch zu Fuß.
Und Aleksandras Entwicklung war einfach erstaunlich: Aus dem ängstlichen und gehemmten Kind wurde ein selbstbewusstes Mädchen, das in der Schule kaum noch gehänselt und ausgegrenzt wurde. Sogar ihr Hinken war ein wenig zurückgegangen. Das Reiten stärkte Muskelgruppen, die bei Aleksandras Krankengymnastik nicht angesprochen wurden.
Ihr Beispiel sprach sich schnell herum, und so fragten schon bald Eltern anderer behinderter Kinder an, ob ihre Söhne und Töchter nicht auch nach Beringholm Slott kommen könnten.
Zu Anfang zweifelten Lisbet und Hilda noch, ob sie die Verantwortung für ein halbes Dutzend behinderter Kinder wirklich auf sich nehmen konnten. Doch das glückliche Strahlen in Aleksandras Gesicht ließ sie schließlich alle Bedenken über Bord werfen.
Seitdem hallte fast immer Kinderlachen durch die altehrwürdigen Mauern von Beringholm Slott. Es war für die Schwächsten und Unschuldigsten der Gesellschaft – sowohl Mensch als auch Tier – eine Zuflucht geworden. Und ganz gleich, was Hannes Westenberg von ihr dachte, Lisbet war stolz auf das, was Hilda und sie hier gemeinsam aufgebaut hatten.
Dabei waren die Umstände von Anfang an alles andere als günstig gewesen: Da weder sie selbst noch Hilda über eine Ausbildung verfügten, die sie für die Betreuung behinderter Kinder qualifizierte, waren schon bald die ersten Paragrafenreiter auf den Plan getreten. Denn dafür, dass ihre Schützlinge regelrecht aufblühten, wenn sie bei ihnen waren, und dass die Arbeit mit den Tieren und die Verantwortung, die man ihnen übertrug, ihr Selbstbewusstsein stärkte, interessierte sich in den Amtsstuben natürlich niemand. Das Glück der Kinder passte eben nicht zwischen zwei Aktendeckel und ließ sich auch nicht in starren Einheiten bemessen.
Es war ein langer, harter Kampf gewesen, schließlich doch die amtliche Erlaubnis zu erhalten, ihre Arbeit fortzusetzen. Ja, er hatte im Grunde genommen niemals wirklich aufgehört. Sie mussten sich regelmäßigen strengen Kontrollen unterziehen und nachweisen, dass sie wirklich etwas zum Wohl der Kinder unternahmen. Und
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