Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
zu mir, Hans.« Er
hob ihn hoch und stellte ihn auf den Rand des Tisches. »So, jetzt dreh mir den
Rücken zu. Ich bleib hinter dir stehen und strecke meine Arme aus. Siehst du,
so. Und jetzt sag ich zu dir: Hans, leg dich zurück und laß dich in meine Arme
fallen, aber du darfst jetzt nicht mehr zu mir herumsehen.«
Der Hans wagt es nicht. Er
sieht herum und will nach den Händen des Lehrers greifen, um sich festzuhalten.
»Du sollst doch nicht
herumsehen! Du sollst nicht nach meinen Händen greifen! Siehst du, du hast kein
Vertrauen zu mir, sonst hättest du dich einfach fallen lassen. Schon wieder
guckst du herum; trau mir doch, daß ich dich festhalte!«
»O noi.« Er wagt es nicht.
Da meldet sich der Karl. Er ist
einer von den Kleinsten. »I probier’s.« Er kann es zwar nicht sagen, aber man
sieht ihm an, daß er sein Vertrauen zeigen will. Er läßt sich auf den Tisch
stellen.
»Hast du Vertrauen zu mir,
Karl?«
Er nickt.
»Also dann: Augen zu und
rückwärts in meine Arme fallen lassen.«
Er macht’s. Im Zurückbeugen
überkommt ihn die Angst, und er schnappt nach Luft, aber da liegt er auch schon
in den Armen seines Lehrers und lacht.
»Gelt, wie schwer sieht das
Vertrauen aus und ist doch so leicht! Man muß es nur wagen.«
Jetzt sind die Schleusen zum
Gespräch geöffnet. Alle melden sich dazu: »Wer Angst hat, der hat kein
Vertrauen.« — »Dem Herrn Lehrer kann man vertrauen.« — »Er läßt einen nicht
fallen.« — »Der liebe Gott läßt einen auch nicht fallen.« — »Aber man muß ihn
darum bitten.«
Einmal geschah in der
Religionsstunde etwas Unerwartetes. Der große Gustav sagte, indem er ganz frech
lachte: »Ich bet nie.« Erstaunt, erschrocken sahen die Kinder die Lehrerin an.
Es war wieder Fräulein H. Sie hat es selbst einmal erzählt:
»Er war aus der Volksschule
ausgewiesen worden, weil er sich derart aufführte, daß der Unterricht durch ihn
zu sehr gestört wurde. Seine Lehrerin und den Bezirksschulinspektor hatte er
beschimpft, erstere sogar tätlich angegriffen. So weit kam es bei uns zwar
nicht. Die strenge Ordnung in allen Dingen hatte da schon wohltuend auf ihn
eingewirkt. Auch verstand es sein Hausvater ausgezeichnet, ihn zu behandeln.
Aber gegen seinen Jähzorn mußten auch wir kämpfen. Ich weiß noch wohl, wie ich
innerlich zitterte, als ich ihm die erste Strafe geben mußte. Wehrte er sich,
so war ich verloren. Mit dem großen Buben und seiner Körperkraft wäre ich nicht
fertig geworden. Er ließ sich strafen, aber dann brach er in ein Toben aus.
Ruhig ging ich zu ihm: ›Nun bekommst du deine Strafe fürs Schreien und Toben,
und wenn ich nachher noch einen Laut höre, bekommst du noch eine Strafe.‹ Er
gehorchte. Mit geballten Fäusten, zusammengepreßten Lippen saß er da. Ich aber
war erleichtert.«
Von da an begehrte er nur noch
gelegentlich auf.
So auch jetzt, als vom Beten
gesprochen wurde. Er prahlte mit seiner Behauptung, daß er nie bete. Er war ja
so groß und stark, daß alle sich vor ihm fürchteten. Er brauchte den lieben
Gott nicht.
Die Lehrerin fragte ihn: »Ihr
betet doch abends im Schlafsaal?«
»Da bet ich nicht«, kam trotzig
die Antwort.
»Aber bei der Andacht?«
»Da betet bloß der Hausvater.«
»So, so, du betest also nicht.
Dann mußt du halt sehen, wie du ohne den lieben Gott auskommst.«
Von da an flocht sie in der
»Biblischen Geschichte« manchmal ein paar Worte ein, die ganz besonders ihm
galten, ohne daß er eine Ahnung davon hatte. Allmählich spürte sie, wie sein
Widerstand nachließ und wie nach und nach bei ihm das Interesse erwachte an dem
Leben und Ergehen der Menschen, die ihm vor Augen gestellt wurden. Ihm, der von
allen anderen Kindern wegen seiner Körperkraft ohne weiteres als Führer
anerkannt wurde, taten es besonders die Heldengestalten des Alten Testamentes
an: ein Mose, Josua, Gideon. Das packte ihn, weil sie ihm imponierten. Da ließ
Gustav kein Auge von der Lehrerin, er freute sich mit, wenn ihnen ein Heldenstück
gelang, er trauerte mit ihnen, wenn es ihnen schlecht ging. Er fand es ganz in
der Ordnung, daß Gott ihnen half, wenn sie in Not waren, und er wunderte sich
nicht, daß sie ihn um seine Hilfe baten. Er begriff, daß das Vertrauen auf Gott
sie stark machte und ihnen Kraft schenkte, und wenn die Lehrerin zum Schluß
eine Liedstrophe mit den Kindern betete, dann betete er ganz von selber mit,
weil es ja Gott war, der diesen Helden in allen ihren Nöten geholfen hatte.
Es kam so weit, daß
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