Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
»danke« wiederholen; es klang
klar und rein, auch »bitte« konnte sie sagen.
Als Ursel am Tag darauf ein
paar Sätze im Lesebuch vorlesen sollte, bildeten sich nach anfänglichen
Schwierigkeiten die Wörter immer klarer und deutlicher, und nach etwa einer
Stunde redete sie in normaler Tonhöhe. Anfangs machte sie noch nach jedem Wort
eine Pause und atmete tief, als müßte sie immer wieder einen Anlauf nehmen;
aber dann gelang es ihr nach und nach, auch kleine Sätze im Zusammenhang zu
lesen und zu sprechen. Schon fiel sie nicht mehr unter den anderen auf,
Nervosität und Angst waren verschwunden, auch ihr Körper war beim Sprechen
nicht mehr verkrampft — , da nahmen ihre Eltern sie wieder nach Hause, der Kosten
wegen. Vergebens setzte sich die Lehrerin für ihre Ursel ein, die ihr nach all
diesen Mühen und Erfolgen ans Herz gewachsen war, vergebens machte sie die
Eltern darauf aufmerksam, das alles verlorengehen könne, was Ursel in der
Schule gelernt, wenn sie wieder in eine andere Umgebung komme, daß sie noch
nicht genügend Sicherheit im Sprechen habe, um es von selbst weiterzuüben. Es
war alles umsonst, und es wurde ein schmerzlicher Abschied, der den Großen und
Kleinen naheging.
Drei Jahre später machte die treue
Lehrerin der kleinen Ursel in ihrem Heimatdorf droben auf der Alb einen Besuch.
Sie sah sie vor dem Haus
sitzen. »Ursel!« rief sie ihr zu. Da schaute Ursel auf und ging in heller
Freude dem Besuch entgegen. Das ganze Mädchen strahlte, aber ein Gruß kam nicht
aus ihrem Mund.
»Ursel, kein Grüß Gott?«
Erst nach langem, langem Mühen
brachte sie es heraus. Die Lehrerin wußte Bescheid. Es war gekommen, wie sie
gesagt hatte: das Sprechen ging kaum mehr. Nachher in der Stube holte Ursel
zuerst aus einer Schublade alle ihre Schätze herbei: Bildlein und Büchlein,
Fleckchen und Püppchen und alle die verschiedenen Dinge, die die Kinder in
Stetten bekommen und die sie hatte mit heimnehmen dürfen. Als kostbares Gut
waren sie ihr geblieben, sauber in Papier gewickelt und mit Liebe und Sorgfalt
verwahrt. Die Mutter sagte, wie sehr sie an all den Dingen hänge und wie sehr
sie sie hüte.
Nachher machte Fräulein H. mit
ihrer früheren Schülerin noch einen kleinen Spaziergang und fragte sie nach
diesem und jenem, was sie einst mit den Kindern in der Schule besprochen hatte.
Auch wenn sie nur ab und zu ein Wort wiederholte und im übrigen mit Nicken und
Zeichen antwortete, schien es, als lebte sie noch ganz in den Gedanken und
Geschichten, die sie damals in sich aufgenommen. Von neuem Lernen und Erleben
war nichts zu spüren; woher hätte es auch kommen sollen? Die Erwachsenen hatten
keine Zeit für sie, und selbst wenn sie sie gehabt hätten, hätten sie es nicht
verstanden, mit dem Kinde richtig umzugehen.
Das war nicht ihre Schuld. Aber
es war bitter, sich sagen zu müssen, daß das zarte Pflänzlein aus seinem Garten
gerissen worden war, in dem es allein hätte gedeihen und schließlich Blüten und
Früchte ansetzen können. Es ging Leben zugrund, das, wäre es gepflegt worden,
sich weiter hätte entfalten können.
War es verwunderlich, wenn
eines Tages solches Leben mit Absicht und mit Gewalt zerstört wurde?
Noch war es nicht soweit. Noch
versuchten treue Ärzte, Lehrer, Pfarrer, Leben zu retten, Leben zu fördern, Licht
zu verbreiten, wo scheinbar hoffnungsloses Dunkel war, auch denen irgendwie
Teil zu geben an den Schätzen menschlicher Weisheit und Erkenntnis, die wie
durch eine unübersteigbare Mauer davon getrennt schienen.
Frühjahr 1932. Oberlehrer Rupp
hat seine Schulandacht gehalten. Nun reißt er ein Kalenderblatt ab und sagt,
indem er auf den Kalender deutet:
»Heute ist der 22. März.«
Er sinnt. Soll er doch etwas
davon sagen? Beim Frühstück hatte er mit seiner Frau davon gesprochen, daß
heute der 100. Todestag Goethes sei und daß landauf, landab Schulfeiern
stattfänden und Reden gehalten würden, aber daß man natürlich in Stetten bei
den Schwachsinnigen...«
»Heute ist der 22. März«,
wiederholen die Kinder im Chor, als wollten sie sagen: Kannst du denn nicht mehr
lesen, Herr Lehrer? Zwei Zweier stehen da; warum zweifelst du denn? Wir haben
doch Augen im Kopf, oder willst du uns vielleicht auf die Probe stellen?«
Erwartungsvoll sehen ihn die
Kinder an. Da gibt er sich einen Ruck: Sei’s drum. Ich probier’s, mag’s gehen,
wie es will.
Und er beginnt: »Kinder, es ist
lange, lange her, genau hundert Jahre, da stand auf dem Kalender auch der
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