Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
Ehre geben. Er schüttelt also den
Kopf.
»Wir bringen es nicht heraus,
du mußt es uns sagen.«
»In Weimar. Dort hat er viele
Jahre gewohnt, und dort hat er seine schönen Geschichten und Gedichte
geschrieben.«
»Ist das weit?«
»ja, da muß man mit dem Zug
über Stuttgart hinaus fahren, viele Stunden, dann kommt man hin. Aber geboren
ist er in einer anderen großen Stadt.«
»Wo, wie fangt’s an?«
»Mit F.«
»Frankreich«, schallt es ihm
entgegen.
Jetzt hat er die Bescherung.
Sollen denn die Franzosen alles haben, auch noch unseren Goethe? denkt er im stillen,
aber zu den Kindern sagt er: »Frank« stimmt, aber dann geht’s anders weiter,
mit einem f.«
»Frankfurt«, ruft einer, »da
hab ich einen Onkel.«
»Jawohl, grad in dem Frankfurt,
wo du einen Onkel hast, da ist Goethe geboren, da hat er gespielt mit anderen
Buben, als er so groß war wie ihr, da war er bei seinem Vater und seiner
Mutter, und da ist er auch in die Schule gegangen.«
Es klopft. Eine Lehrerin tritt
ein. Ihr Blick fällt auf die Wandtafel: »Oh, hier wird Goethe gefeiert!«
Und zu den Kindern: »Ach, was
wißt denn ihr von Goethe?«
»Goethe war ein berühmter
Dichter«, rufen sie ihr im Chor entgegen. Voller Freude und Stolz verkünden
sie, was sie eben gelernt haben.
Beim Mittagessen bekennt Herr
Rupp seiner Frau: »Heut hab ich halt doch eine Goethestunde gehalten.«
»Und wie ist’s gegangen?«
»Oh, ganz gut. Sie haben
wenigstens verstanden, daß Goethe ein berühmter Dichter war. Und damit muß ich
mich begnügen.«
Er sagt es fast wehmütig. Hin
und wieder kommt es ihm zum Bewußtsein, wie vielem ein Lehrer entsagen muß, der
schwachsinnige Kinder unterrichtet.
Aber seine Frau erwidert ihm:
»Glaubst du, daß viele Kinder in Deutschland mehr wissen von Goethe als das,
was du heute morgen die deinen gelehrt hast?«
Siebzehn Jahre später, beim
100. Jahresfest der Anstalt, war wieder von Goethe die Rede. Diesmal war es
sein 200. Geburtstag, den man in Deutschland feierte, und ein berühmter
Theologieprofessor aus Tübingen hielt in Stetten die Festpredigt, die mit
folgenden Sätzen begann:
»Im Jahr des Goethejubiläums feiert
auch unsere Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische ihr
Jubiläum. Ich weiß nicht, ob bei einem der großen Goethevorträge so viele
strahlende Gesichter wie hier in Stetten zu sehen sind. Welchen Gegensatz
umfaßt dieses seltsame Doppeljubiläum! Auf der einen Seite ein Mann, der vom
Glanz des Weltruhmes beschienen ist; auf der anderen Seite stehen oder liegen
viele kleine, namenlose und hilflose Menschen, die niemand kennt. Auf der einen
Seite ein Mann, den die Welt als Olympier empfunden hat, dessen Leben Glück und
Ruhm war; auf der anderen Seite Menschen, die von Kummer und Elend ohne Ende
geplagt werden. Nicht nur der große Goethe, sondern auch diese Kleinen und
Armen feiern heute ihr Jubiläum. Daß sie keinen Trauermarsch blasen, sondern
Lobgesänge singen, das ist ein Wunder. Sie feiern heute nicht hundert Jahre
Elend, sondern sie feiern eine hundertjährige Treue Gottes, die auch in ihre
Tiefe hinein kam, um sie, die geistig und geistlich Armen, reich zu machen und
strahlendes Licht auch in die Finsternis ihres Lebens scheinen zu lassen.«
So war es also: Nicht bloß in
Frankfurt konnte man 1949 ein Jubiläum feiern, sondern auch in Stetten im
Remstal, und während man in Frankfurt den großen Menschen und Dichter Goethe
feierte, lobte und pries man in Stetten den Gott, der die Armen und Schwachen
nicht im Dunkel gelassen hatte. Das konnte jeder verstehen.
Und auch in Stetten wurde
Theater gespielt. Ein Festspiel wurde aufgeführt, das von Stetten und seiner
Geschichte handelte, verfaßt von einem schwäbischen Dichter, in dem es am
Schluß hieß: »Ja, Leut, wir Kranke wisset au, was a Heimat ist, und ‘s hat halt
doch gholfe, daß wir älle Tag bettet hent (gebetet haben), daß uns der liebe
Gott wieder heim läßt. Und jetzt sind wir wieder daheim.«
Ja, sie hatten in Stetten das
Beten gelernt, wenn sie es nicht schon vorher konnten. Und es war gut so, denn
inzwischen war ja über sie alle die Nacht gekommen, aus der heraus man nur noch
rufen konnte: »Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände.« —
Was »Vertrauen« sei, wollte
Hans von seinem Lehrer wissen. Diese Frage war nicht leicht zu beantworten,
aber im Religionsunterricht kam so etwas fast jedesmal vor.
Der Lehrer besann sich einen
Augenblick, dann sagte er:
»Komm mal her
Weitere Kostenlose Bücher