Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
er für
Fräulein H. zum Maßstab dafür wurde, ob ihr ihre Erzählung gelungen war.
Leuchteten seine Augen auf, dann war der Zweck der Stunde erfüllt; war er nicht
bei der Sache, dann suchte die Lehrerin die Schuld bei sich selbst.
Merkwürdig, welche Wandlung mit
dem Buben allmählich vor sich ging. Es war ihm sichtlich eine Freude, wenn er
seiner Lehrerin einen Dienst erweisen konnte; und wenn sie ihn lobte: »Auf den
Gustav kann ich mich halt verlassen«, schmunzelte er vergnügt.
Oft kam es vor, daß auch die
Kinder ihren körperlich behinderten Kameraden helfen mußten; es war dafür in
der Klasse ein regelrechter Hilfsdienst eingerichtet. Der Gustav griff von
selber zu; wenn er aber merkte, daß ihn die Lehrerin dabei beobachtete, setzte
er sich still und verlegen, mit rotem Kopf, auf seinen Platz.
Eines Morgens stellte sie fest,
daß er nicht recht bei der Sache war, und wies ihn zurecht, einmal, zweimal.
Aber Gustav stützte den Kopf in die Hand und schien nicht gehorchen zu wollen.
»Was ist denn mit dir?« fragte
sie schließlich. »Fehlt dir was? Tut dir was weh?«
Er wurde rot und schwieg.
»Das darfst du doch sagen, da
ist doch nichts dabei. Hast du Kopfweh?«
Endlich nickte er.
»Ja, dann glaub ich wohl, daß du
nicht aufpassen kannst. Ich kann auch nicht aufpassen, wenn ich Kopfweh habe.
Das hättest du mir gleich sagen sollen.«
Da kam es mühsam aus ihm
heraus: »Du sagst doch immer, daß ich mich zusammennehmen soll.«
Er sah seine Lehrerin froh und
dankbar an. Sie strich ihm über den Kopf. Früher hätte er gebockt und
aufbegehrt und jetzt — war er froh, wenn man merkte, daß ihm etwas fehlte. Als
er am Schluß der Stunde das Zimmer verließ, drehte er sich unter der Tür noch
einmal um und schaute die Lehrerin froh und glücklich an. Sie selbst war nicht
weniger beglückt.
Nach seiner Konfirmation konnte
man ihn getrost entlassen. Er würde seinen Weg durchs Leben schon finden.
Einige Zeit später unterhielt
sich Fräulein H. mit einer Kollegin, die über Gustav, den sie von früher her
kannte, urteilte: »Eine Verbrechernatur durch und durch. Noch nie habe ich
einen so bösen Buben gehabt. Er endigt sicher noch im Zuchthaus.«
Fräulein H. erschrak: »Mir
war’s mein liebster Schüler.«
Ungläubig schüttelte die andere
den Kopf.
Da erzählte Fräulein H. ihr
einiges von dem, was sie mit Gustav erlebt hatte.
»Unglaublich, unglaublich«,
meinte die Kollegin. Schließlich konnte sie nur sagen: »Dann ist ein Wunder mit
ihm geschehen.«
Ja, es geschehen Wunder in
Stetten. Aber die tut Gott. Die Menschen sind immer nur seine Handlanger.
DIE GRAUEN OMNIBUSSE
Man schrieb den 30. Mai des
Jahres 1940.
Es war ein schöner
Sommermorgen, wie man ihn im Remstal kennt und liebt: Die Blüte der Kirschen, der
Äpfel und Birnen war schon vorüber, aber dafür leuchteten die Wiesen in hellem
Gelb und Grün, die Wälder trugen frisches Laub, die Weinberge schimmerten im
ersten Blätterhauch, und die Vögel sangen und zwitscherten, als wäre tiefster
Frieden.
Innerhalb von drei Wochen
hatten die Deutschen Belgien und Holland überrannt. Sie waren schon tief in
Frankreich. Städte und Dörfer, Täler und Höhen hallten wider von den
Siegesmeldungen des Rundfunks, von der »Offensive größten Ausmaßes«, von den
»gewaltigsten Schlachten der deutschen Geschichte.« Die Welt hielt den Atem an.
Der deutsche Bürger atmete auf: Stand am Ende der Frieden vor der Tür? Aber die
Bedenklichen schüttelten insgeheim den Kopf: Noch war nicht aller Tage Abend!
In dieser Zeit begann in der
Heimat selbst eine unheimliche Offensive. Kein Mensch sollte es wissen, niemand
davon reden, ja, man riskierte den Kopf, wenn man auch nur von fern eine
Andeutung machte. Und doch wußte man bald talauf, talab, was sich in Stetten am
30. Mai zugetragen hatte.
Am frühen Morgen dieses Tages
hielten vor dem Schloß zwei Omnibusse. Sie sahen aus, als hätte man sie
feldgrau angestrichen. Die Fenster waren undurchsichtig, als hätten sie etwas
zu verbergen. Keine fröhlichen Städtebilder waren aufgemalt, kein Ziel war angeschrieben,
nur der Name einer Firma stand da: »Gemeinnützige Krankentransport GmbH.«
Gemeinnutz ging ja damals angeblich vor Eigennutz, und was war uneigennütziger,
als Kranke gratis zu transportieren, am Ende gar im Auftrag der KdF (»Kraft
durch Freude«)?
Die Autobusse standen
schweigend vor dem Schloß, und es konnte nicht ausbleiben, daß sich auch Kranke
um sie
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