Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
22.
März, aber nicht 1932, sondern...«
Sie finden’s nicht. Er muß es
ihnen sagen. Er schreibt an die Wandtafel: 22. März 1832. Er sieht die Kinder
an.
»Ah«, ruft einer, »da ist ein
Achter und kein Neuner!«
»Jawohl, du hast recht. Und
seit dem 22. März 1832 sind hundert Jahre vergangen. An jenem 22. März 1832
starb ein Mann, an den heute viele, viele deutsche Männer und Frauen denken. Wer
weiß, wer das ist?«
Es ist sozusagen nur eine
rhetorische Frage, denn der Lehrer weiß wohl, daß sie es nicht wissen können,
aber er will ihre Neugierde wecken.
Die Kinder sehen sich an und
schütteln die Köpfe.
»Ich will euch den Namen sagen
und schreibe ihn hier groß an die Wandtafel:
G o e t h e
Wohlweislich läßt er die
Vornamen weg — Johann allein erschiene ihm zu respektlos, Wolfgang wäre den
Kindern zu fremd und gäbe womöglich Anlaß zu Fragen, die allzuweit abseits führten.
Schon das oe in Goethe ist den Kindern ungewohnt und darum verdächtig, und der
Lehrer muß ihnen klarmachen, daß man in diesem Fall das ö mit den beiden
Buchstaben o und e schreiben muß.
Soweit wäre alles gut; aber die
Hauptsache fängt erst an. Nun muß der Lehrer den Kinder sagen, wer dieser
Goethe ist und was er geleistet hat, daß man seiner immer noch gedenkt, obwohl
heute schon sein 100. Todestag ist. Fast will es Herrn Rupp erscheinen, als
hätte er sich in eine Sache eingelassen, die er nicht hinausführen könne. Aber
wer a sagt, muß auch b sagen, und die Kinder haben jetzt ein Recht darauf zu
hören, was es mit diesem Goethe auf sich hat.
Er nimmt also einen neuen
Anlauf: »In unserem Lesebuch lesen wir jeden Tag feine Geschichten, Rätsel,
Gedichte...«
»Au ja, vom Schneemann«, tönt’s
ihm entgegen. »Die Geschichte von dem Hund, wo den Buben aus dem Wasser gezogen
hat«, ruft einer.
»Und wer weiß ein Gedicht?«
»Ei du liebe Zeit, ei, wie
hat’s geschneit, geschneit«.
»So. Und immer, wenn die
Geschichte oder das Gedicht aus ist, dann steht unten ganz klein ein Name...«
»Ja, den lesen wir auch. So
heißt der Mann, wo das Lied gedichtet oder die Geschichte gemacht hat.«
Das wissen die Kinder, und sie
wissen auch, daß man so einen Mann einen Dichter heißt.
Darum fährt der Lehrer fort:
»Seht, der Goethe, der hat viele, viele solcher Gedichte und schöne Geschichten
gemacht.«
Pause.
Einer streckt: »Ich weiß, der
Goethe war ein Dichter.«
»Stimmt, das wollen wir uns
also merken und nicht vergessen.«
Alle wiederholen im Chor:
»Goethe war ein Dichter.«
Ein Mädchen streckt: »Hat er
solche Lieder gemacht wie im Gesangbuch?«
»Nein, solche hat er nicht
gemacht.«
»Solche wie im Singheft?«
»Ja, singen kann man viele von
seinen Liedern. Er hat auch solche Geschichten gemacht, die man spielen kann.«
»Spielen? Au ja, ich hab einmal
mitgespielt: Schneewittchen und die sieben Zwerge, und ich war das
Schneewittchen«, verkündet ein Mädchen. Sie hat es nicht vergessen, sie ist
sehr stolz darauf.
»Ja«, sagt der Lehrer, »solche
hat er viele gemacht, die man spielen kann. Meist spielt man sie im Theater.«
Theaterspielen — das wissen sie
gut, was das ist. Das tun sie selber, z. B. im Religionsunterricht. Für sie ist
es aber kein bloßes »Theater«, sondern ernsthafte Wirklichkeit. Etwa Joseph und
seine Brüder. Da liegt er in seiner Grube (sie wird von einem »Anfallsbett«
dargestellt) und jammert kläglich: »Laßt mich doch wieder raus, ich will lieb
sein.« Aber die Brüder schauen mit schadenfrohen Blicken auf ihn herab. Nur ein
paar von ihnen sind voller Mitleid. Und jetzt kommt auch noch jemand in das
Schulzimmer, um mit dem Lehrer etwas zu besprechen, derweil der Joseph noch
immer in seiner Grube jammert. Da springt einer von den Mitleidigen zum Lehrer
und bittet für den armen Joseph: »Aber gelt, bis du fertig bist, darf der
Joseph wieder aus der Grub heraus und a bißle spaziere gehe?«
So ernst nehmen sie das
Theater.
Der Lehrer muß nun wieder zur
Sache kommen. »Möchtet ihr wissen, wo der Goethe gelebt hat? Ratet einmal!«
»Oh, das ist schwer, das
bringen wir nicht heraus. Wie fangt’s an?«
»Mit W.«
»In Waiblingen«, heißt es jetzt
natürlich von allen Seiten. Das kennen sie, das ist ja nicht weit von Stetten.
Der Lehrer würde den
Waiblingern diesen Ruhm gerne gönnen, und er wäre sogar selber stolz darauf,
wenn nicht bloß der Schiller, sondern auch der Goethe ein Schwabe wäre, aber
schließlich muß er doch der Wahrheit die
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