Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
der
Tat findet, wird es abhängen, ob unsere Anstalt und die ganze Innere Mission
weiterbestehen und neu aufgebaut werden können, aber auch, ob die Kirche den
ihr aufgetragenen Dienst an der Welt ausrichten wird.«
In seiner Schrift
»Lebensunwert?«, die er im Jahre 1947 herausgab, stellte der Inspektor fest,
daß der Mangel an Unterbringungsmöglichkeiten für Schwachsinnige und
Epileptische im Grunde nichts anderes sei »als die praktische Fortsetzung der
von uns allen in der Theorie so verabscheuten ›Vernichtung unwerten Lebens‹«,
in vielen Fällen sogar ihre entsetzliche Verschärfung, weil unter den
gegenwärtigen Zuständen nicht nur die Kranken selbst, sondern ebenso ihre
gesunden Angehörigen buchstäblich zugrunde gerichtet würden. Er gab dafür
erschütternde Beispiele:
»Der 41jährige Epileptiker R.
F. hat beide Eltern verloren. Die fliegergeschädigte Familie, die bisher in
seinem Haus wohnte, ihn betreute und ihn beaufsichtigte, ist weggezogen. Da
sein Gesundheitszustand sich in den letzten Jahren erheblich verschlechterte,
findet sich niemand, der sich seiner annimmt; selbst sein Bruder lehnt dies ab.
Er kann sowohl im Interesse der öffentlichen Sicherheit wie in seinem eigenen
nicht mehr allein im elterlichen Anwesen gelassen werden.«
»B. S. ist mit seinen vier
Jahren das zweitjüngste der sechs drei- bis dreizehnjährigen Kinder eines
Eisenbahnangestellten, der für seine ganze Familie zwei unheizbare Zimmer und
eine Küche zur Verfügung hat. B. S. ist hochgradig schwachsinnig, hat eine
Gaumenspalte und ist Tag und Nacht unruhig, so daß er die Ruhe des aus dem
Dienst heimkommenden Vaters dauernd stört.«
»B. K., eine zweieinhalbjährige
Idiotin, schreit bei Tag und Nacht. Die jungen Eltern haben für sich und ihr
zweites, 1946 geborenes Kind nur ein einziges Zimmer zusammen mit der
Schwachsinnigen. Das Kind ist eine so schwere Belastung für die Nerven der
ganzen Familie, daß der Vater sich schon überlegte, ob er es nicht umbringen
müßte.«
»Der siebzehnjährige K. V. war
wegen Schwachsinns nicht hilfsschulfähig, leidet zudem an fortschreitendem
Muskelxchwund und ist deshalb seit 1943 gehunfähig. Sein Vater ist vor drei
Jahren gestorben. Die Mutter, die noch sechs weitere Kinder zu versorgen hat,
ist der Pflege des jungen Mannes körperlich nicht mehr gewachsen.«
Diese Beispiele könnten
unendlich vermehrt werden. Die Geduld der Angehörigen wurde auf eine schwere
Probe gestellt. Das Jahr 1948 brachte die Währungsreform und damit neue
unabsehbare Schwierigkeiten, so daß der Bericht dieses Jahres die Überschrift
trug: »Nur nicht so langsam, sie sterben darüber.« Mit diesen Worten hatte
einst Bodelschwingh seine Zeitgenossen aus ihrer Gleichgültigkeit aufzurütteln
versucht. Wohl wurde im April 1948 das Männerhaus zurückgegeben, aber im
Augenblick der Währungsreform stand es noch fast völlig leer: »Es fehlte an
allem und jedem. Lieferungen, die längst versprochen waren, wurden
zurückgehalten, und nach der Währungsreform fehlte das Geld, sie zu bezahlen.
Eben hatte man damit begonnen, Kranke aufzunehmen — sollte man sie auf bessere Zeiten
vertrösten? Der barmherzige Samariter hat auch nicht gewartet, bis bessere
Zeiten kamen.«
Trotz allem wurde am 12. Juni
1949 das 100. Jahresfest gefeiert, an dem nicht nur der Landesbischof, sondern
auch der Innenminister teilnahm, Professor Thielicke die Festpredigt hielt und
Paul Wanners Festspiel »Die dringende Botschaft« zum ersten Mal aufgeführt
wurde.
Die Freude dieses Tages
erreichte ihren Höhepunkt, als der Innenminister erklärte: »Es ist ein Gebot
der Menschlichkeit, die Heil- und Pflegeanstalt Stetten so rasch wie möglich
wieder in vollem Umfang wirksam werden zu lassen. Ich darf Ihnen und der
Leitung der Anstalt die Versicherung geben, daß das Innenministerium Sie in
Ihrer Bemühung um baldige volle Rückgabe der Anstaltsgebäude und ihrer Einrichtung
unterstützen wird.«
Der Stuttgarter Stadtdirektor
nahm den Minister beim Wort und schmiedete das Eisen, solange es heiß war,
indem er sagte, wenn das Land Württemberg der Stadtverwaltung 6 Millionen zur
Verfügung stelle, werde die Stadt die weiteren 6 Millionen aufbringen, die zum
Wiederaufbau ihrer Krankenhäuser notwendig seien. Dann sei sie in der Lage, bis
zum x. Juli 195X die Anstalt ganz zu räumen.
Da war großer Jubel im Park von
Stetten, dessen Wellen bis nach Hebsack schlugen, wo im Weraheim die kleinen
schwachsinnigen Kinder vorläufig
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