Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
Und schließlich dankte er seinem Hausvater für
alles, was er an ihm getan habe, hing weinend an seinem Hals, während ihm
dieser Tränen und Angstschweiß abtrocknete und zu ihm sagte: »So spricht der
Herr: Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen
gerufen, du bist mein.« Dann faltete Richard die Hände und betete selbst:
»Vergib mir, lieber Heiland, meine vielen Sünden; verzeih mir, wo ich dich
beleidigt und erzürnt habe; widerstehe du den Feinden, die in Todesnot mir
schaden wollen, und hilf mir, daß ich meine Feinde nicht beleidige, nicht
stoße« — womit er das krampfhafte Zucken seiner Hände meinte. In diesem
Augenblick ging die Tür auf, und die Mutter jenes anderen Kranken, der in
dieser Stunde auch abgeführt werden sollte und so gern mit seinem Freunde
gestorben wäre, trat herein und brachte ihm einen Becher Milch zu trinken. Er
dankte ihr und trank ihn langsam aus. Dann fragte er:
»Was macht mein Karl?«
Die Mutter schluchzte: »Als der
Transportleiter mich so weinen sah, hat er ihn noch einmal da gelassen.«
»Grüß ihn von mir und sag ihm,
wir bleiben doch beieinander!«
So war es auch: Das nächste Mal
gab es keinen Aufschub mehr. Als sie Karl hinaustrugen, rief er:
»Unser Blut komme über euch!«
Dies Wort traf die, die
dabeistanden, wie ein Blitz. Sie haben es nie vergessen. Von da an wußten sie,
daß der Krieg verloren war.
Als Richard in den Omnibus
gebracht wurde, rief eine den Kranken wohlbekannte Stimme:
»Der Friede Gottes bewahre eure
Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem König! Behüt euch Gott!«
»Behüt Sie Gott!«
Und als wollte Richard auch den
Fahrern noch ein Wort sagen, rief er: »Wir leben alle von Gottes
Barmherzigkeit!« Das war das letzte.
In diesen Jahren, da so viele
Millionen sterben mußten, konnte man da und dort hören, auf ein paar
Schwachsinnige mehr oder weniger komme es doch nicht an, oder, wie ein
Ministerialrat im Gespräch mit einem Vertreter des Oberkirchenrats betonte, die
Natur, das eigentliche Herrschaftsgebiet Gottes, kenne auch kein Erbarmen mit
Schwachen und Kranken; ein kranker Hase gehe eben zugrund, und daher käme es,
daß die Hasen immer eine hundertprozentig gesunde Gesellschaft seien, worauf er
sich sagen lassen mußte, daß es sich hier ja nicht um Hasen, sondern um
Menschen handle, für die das fünfte Gebot gelte: »Du sollst nicht töten.« Und
als er die Meinung äußerte, die meisten Leute seien mit diesen Maßnahmen
durchaus einverstanden und nur die Pfarrer wollten nicht umlernen, wurde ihm
entgegengehalten, daß es erschütternde Briefe gerade von Ärzten gebe, die
zeigten, daß sie keineswegs mit diesen Dingen einverstanden seien.
Es war umsonst, daß die Kirche
verlangte, der Staat solle für seine Maßnahmen eine gesetzliche Grundlage
schaffen, denn gerade dies lehnte er ab, weil er den Widerspruch der
Öffentlichkeit scheute. So ging das Morden weiter, bis Anfang Dezember 1940 der
Kreisleiter von Heilbronn in Stetten erschien, um das »Schloß an der Grenze«
als Lager für umzusiedelnde Volksdeutsche zu beschlagnahmen. Die Anstalt für
Schwachsinnige und Epileptische sollte endgültig erledigt werden, da sie durch
ihren Widerstand überall Anstoß erregt hatte und als weltanschaulich untragbar
galt. 322 Kranke waren abgeholt und in Grafeneck ermordet worden, 441 hatte man
im ganzen angefordert. So hatte der Staat, wenn auch nicht ganz, sein Ziel, die
Hälfte der Kranken zu vernichten, erreicht.
Mehr als 400 Kranke mußten nun
binnen acht Tagen abtransportiert werden.
Wohin? Wer nach Hause oder in
eine Dienststelle entlassen werden konnte, war am besten dran, die übrigen
wurden auf andere Anstalten verteilt. Das gesamte Mobiliar der Anstalt wurde
für das Lager der Volksdeutschen beschlagnahmt, und was hierbei nicht
verlorenging, das wurde vollends ausgeräumt, geraubt, geplündert, als die
Luftwaffe Schloß Stetten übernahm, um darin eine Unteroffiziersschule
einzurichten. So wurde aus der Anstalt im August 194a eine Kaserne.
Aber Ende des Jahres 1943
sicherte sich die Stadt Stuttgart sämtliche Gebäude für ein
Ausweichkrankenhaus. Jetzt wurde wenigstens ein Pachtvertrag abgeschlossen, und
alle Häuser wurden wieder in einen guten Zustand versetzt.
Niemand wußte, ob das »Schloß
an der Grenze« jemals wieder sein Tor öffnen würde für die, denen es so viele
Jahre Herberge, ja Heimat gewesen war. Das einzige, was man der Anstalt
gelassen hatte, war der
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