Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
plötzlich wie ein unerwartetes Geschenk
uns in den Schoß geworfen wurde, als wir auf seinen Erwerb schon zu hoffen
aufgegeben hatten.«
Dankbar stellte der Inspektor
fest, wieviel Hilfe er von allen Seiten erfahren habe, von amtlichen und
kommunalen Ämtern und Behörden, von der Verwaltung der Stadt Stuttgart, von anderen
Anstalten der Inneren Mission, vom Kirchlichen Hilfswerk und nicht zuletzt von
ungezählten, vielfach schwerkriegsbeschädigten Gemeindegliedern. Nur so war es
möglich, schon am 1. Mai 1946 mit der Aufnahme von Pfleglingen zu beginnen.
Ende September waren sämtliche 70 Plätze belegt. Obwohl alles noch sehr
behelfsmäßig war, fühlten sich die Kranken, die alten wie die neuen, bald
heimisch.
Bei der allgemeinen
Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und den damit zusammenhängenden
Schwierigkeiten lag es nahe, sich an dem Betrieb auf der Hangweide genügen zu
lassen und zufrieden zu sein, daß alle übrigen Gebäude der Heilung von
vielfältiger Krankheitsnot dienten. Und doch stellte sich immer wieder die
Frage, ob nicht das Unrecht, das an den Verfolgten und Geängsteten in den
letzten sechs Jahren geschehen war, in vollem Umfang wiedergutgemacht werden
müsse.
Die Anstalten, die die
Pfleglinge Stettens nach der Auflösung der Anstalt aufgenommen hatten,
brauchten ihre Plätze wieder für ihre eigenen Bedürfnisse.
In wie vielen Briefen wurde
darüber geklagt, daß die bis zum äußersten angespannten Nerven der Väter und
Mütter ihre schwachsinnigen oder epileptischen Kinder nicht mehr zu tragen
vermochten, zumal sie ihnen in den immer bedrohlicher werdenden Wohnverhältnissen
ihre Nachtruhe raubten.
Eines Tages stand es fest: Es
geht ohne Stetten nicht mehr länger. Die Kranken müssen wieder, je nach ihrer
Eigenart und dem Grad ihrer Krankheit, in besonderen Abteilungen untergebracht,
gepflegt und erzogen werden. Die Räumlichkeiten auf der Hangweide reichten dazu
schlechterdings nicht aus. Hier war nur ein Anfang gemacht worden, der
gebieterisch seine Fortsetzung verlangte. Immer häufiger klopften die
Angehörigen der Kranken oder gar diese selbst an die Pforte von Stetten: Wann
habt Ihr endlich wieder Platz für uns?
Ein Vater schrieb: »Mein
dreijähriges Kind leidet an epileptischen Anfällen. Infolge der Krankheit ist
es körperlich und geistig schlecht entwickelt, es kann noch nicht sprechen und
reagiert kaum auf seine Umgebung. Nach Urteil des Arztes kann mit einer
Besserung dieses Zustandes nicht gerechnet werden. Es ist nicht zu beschreiben,
was wir in den letzten Jahren mit diesem Kind durchgemacht haben. Die ganze
Familie ist in Mitleidenschaft gezogen; besonders nachts, wo es in unserem
Schlafzimmer mit noch einem gesunden Kind untergebracht werden muß, und da das
Schlafzimmer meiner Eltern direkt anstößt, ist es ganz schlimm. Man muß stets
mit der Furcht zu Bett gehen, um die ganze Nachtruhe gebracht zu werden. Meine
Frau hat außer der Besorgung der vierköpfigen Familie noch ständig in der
Landwirtschaft zu tun. Sie ist durch diese vielseitige Inanspruchnahme derart
mitgenommen, daß der Arzt die Trennung des Kindes von der Familie für
unumgänglich notwendig hält. Nach anfänglichem Sträuben, denn der Entschluß
fiel mir nicht leicht, sahen wir selbst ein, daß es der einzige Ausweg sei. Ich
selbst bin Kriegsversehrter (doppeloberschenkelamputiert) und bin durch meine
Tätigkeit in einem Amt körperlich und geistig voll in Anspruch genommen, so daß
ich meine Frau nicht unterstützen kann, sondern selbst noch vielerlei
Handreichungen brauche. Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, das Kind
unterzubringen, habe ich vergangene Woche in Schwäbisch Hall im Mutterhaus
angefragt, ob es möglich sei, daß das Kind dort aufgenommen werde. Leider mußte
mir die Schwester einen ablehnenden Bescheid geben. Ihren Vorschlag, mich an
Sie zu wenden, habe ich nun befolgt.«
Es war ein Gebot der
Barmherzigkeit, unaufhörlich und allenthalben zu rufen: »Gebt uns unsere
Anstalt frei für die Pflege der Schwachsinnigen und Epileptischen! Sie gehen
mit ihren Angehörigen zugrunde, wenn ihnen nicht bald geholfen werden kann!«
Aber das allein genügte nicht.
Dazu kam die andere Bitte oder Frage: »Wo sind die Christen, die bereit sind,
mit uns den Dienst der Barmherzigkeit zu tun? Wollt ihr euch nur an Gottes Wort
selbst erbauen und trösten oder hört ihr auch den Ruf zur gehorsamen und
opferbereiten Tat der Barmherzigkeit? Von der Antwort, die diese Frage mit
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