Das Schloß der Barmherzigkeit - Geschichte und Auftrag der Anstalt Stetten
Todesurteil bedeutete. Man
schickte sie dann zum Wagen draußen vor dem Tor. Manche gingen freiwillig, ohne
Begleitung.
Auch die Emilie machte es so,
eine Epileptikerin, angeblich völlig verblödet; doch hatte sie tagaus, tagein
das Treppenhaus blitzblank geputzt. Ohne jede Widerrede folgte sie der Weisung,
zum Bus zu gehen. Sie ging ganz allein — aber am Wagen vorbei und wieder zum
rettenden Tor der Anstalt hinein. Als der Sturm vorüber und die Todesomnibusse
abgefahren waren, fand ihre Pflegerin sie am Wasserhahn stehend, wo sie ihre
Nummer abwusch. Strahlend zeigte sie ihre saubere Hand. Jetzt war sie wieder
ein Mensch, keine bloße Nummer. Aber sie hatte sich zu früh gefreut. Unterwegs
entdeckte der Transportleiter, daß sie fehlte. Er fuhr in seinem Personenwagen
zurück und holte sie ab. Still vor sich hinschluchzend folgte sie ihm.
Waren die Omnibusse wieder
abgefahren, so lagerten dunkle Wolken des Schmerzes, der Angst, der
Ungewißheit, der Unheimlichkeit über dem Schloß und seinen Bewohnern. Die
Zurückgebliebenen, die vielleicht nur zufällig oder vorläufig nicht abgeholt
worden waren, grübelten über den Zweck und Sinn dessen, was geschehen war:
»Wir sind halt unnütze,
überflüssige Brotesser.«
»Aber was können wir dafür, daß
wir so sind? Wir haben doch nichts Böses getan! Warum hat man uns nicht gleich
nach der Geburt umgebracht, wie man es bei den jungen Katzen macht?«
»Gott hat uns doch die
Krankheit geschickt, und wir müssen sie tragen, wir selber, und nicht die
andern. Ist es nicht genug, daß wir sie tragen müssen? Muß man uns auch noch
umbringen?«
»Jetzt ist halt Krieg. Da
müssen so viele brave, gesunde junge Männer fürs Vaterland sterben, warum
sollen wir es besser haben? Ich sterbe gern fürs Vaterland, wenn ich nur nicht
vorher noch geplagt und geschunden werde!«
Aber hin und wieder geschah
etwas, das alle in Erstaunen setzte und Zeugnis gab von einem Glauben, der auch
die Angst überwindet. In diesen Augenblicken verwandelten sich die Ohnmächtigen
in die wahrhaft Überlegenen, und die Verachteten waren hellsichtige Jünger
Christi.
Da war eine Frau, die an den
Folgen einer Kopfgrippe litt. Sie bekam Erregungszustände, die wie epileptische
Anfälle aussahen, ohne es zu sein. Als die Transporte bei den Kranken bekannt
wurden, behauptete sie von Anfang an, daß sie zum Sterben bestimmt sei. Eines
Tages erklärte sie: »Heute kommen die Omnibusse, heute komm ich fort.« Und nun
lief sie hin und her, stöhnend und weinend. Schließlich flüchtete sie in den
Schlafsaal, nicht, um sich zu verstecken, sondern um sich ungestört ihrem
Schmerz hingeben zu können. Sie faltete die Hände, aber sie konnte nicht beten;
sie kniete unter dem Kreuz, aber sie fand keinen Trost. Schließlich lief sie
wieder auf den Gang zurück und sah mit Entsetzen, daß eine Schwachsinnige,
deren sie sich jahrelang in rührender Weise angenommen hatte, zum Omnibus
abgeführt wurde. Da nahm sie das zitternde Mädchen bei der Hand und führte sie
selbst vor das Tor zu den gefürchteten Wagen, über dem fremden das eigene
Schicksal vergessend. Sie wollte es mit ihr teilen. Da erfüllte sich die
Schrift: »Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.«
Der gelähmte Richard hatte sich
anfangs einen Plan zurechtgelegt, wie er mit seinem Freund Karl, einem
gelähmten, aber geistig noch lebendigen Menschen, fliehen wollte. Sie hatten
vor, sich ein Auto zu nehmen. »Aber dann«, so erzählte er selbst dem Pfarrer,
der damals gerade im Urlaub war, »haben wir eingesehen, daß Hitler jetzt so
viel Geld für den Krieg braucht, daß er uns nimmer verhalten lassen kann. Darum
wollen wir in die Schicksalsgemeinschaft mit den sterbenden Deutschen (den
Gefallenen) eintreten. Und überhaupt zeigt sich erst im Sterben, was im
Menschen steckt. Diese Bewährung wollen wir ablegen.«
Als es dann soweit war, gab er
sein Taschengeld und seine Uhr den zurückbleibenden Kameraden seines Zimmers:
»Da, nimm’s, ich brauch’s nicht mehr.« Dann wandte er sich an den Hausvater,
der danebenstand: »Ich möchte noch mit Ihnen beten.« Dieser führte ihn in ein
leeres Zimmer, wo sich sonst die Nachtwache aufhielt. Da waren sie allein, und
der Todgeweihte fiel seinem Hausvater um den Hals und bat ihn um Verzeihung für
alles, womit er ihn in all diesen Jahren, solange er hier gewesen, geärgert
habe. Dann bat er ihn, allen seinen Brüdern im Glauben das gleiche zu bestellen
und sie von ihm zu grüßen.
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