Das Schloß der blauen Vögel
er, war ihr einziger Gedanke. Jetzt wird er mich mit dem Beil erschlagen. Und sie schrie und schrie, zerrte an den Fesseln und warf den Kopf hin und her, als könnte sie damit den erwarteten Schlägen ausweichen.
Sassner warf das Beil weg und sank neben dem Bett auf die Knie.
»Sei still«, stammelte er. »Sei still, Rehlein … Ich bin ja bei dir. Es ist alles vorbei … Beruhige dich doch … Rehlein …«
Er umfaßte sie, löste ihre Fesseln, drückte sie an sich und küßte Luise auf den aufgerissenen Mund. Er saugte den letzten Schrei von ihren Lippen, und dann lag sie wie erstarrt in seinen Armen und begriff nicht, was mit ihr geschah.
»Gerd …« flüsterte sie nach einer ganzen Zeit, in der sie still nebeneinanderlagen. »Gerd … bist du wieder da …?«
Sassner schwieg. Er starrte an Luises Kopf vorbei in das halbdunkle Zimmer und begann plötzlich zu zittern. Sein Schädel war wie mit Wasser gefüllt, prall voll, nahe dem Platzen, so kam es ihm vor.
»Ich muß sofort operieren«, sagte er dumpf. »Ich muß sofort!«
»Bleib liegen, Gerd … bleib ganz ruhig liegen …« Luise preßte die Arme um ihn. Die Worte Ilse Trapps' fielen ihr ein: Es wird bald wieder über ihn kommen, dann muß er töten. Begann es jetzt? Vollzog sich jetzt die fürchterliche Wandlung?
Sassner atmete stoßweise. Schweiß rann über sein verzerrtes Gesicht. Er wollte den Kopf heben, aber Luise umklammerte ihn und drückte ihn an ihre Brust.
»Gerd …« stammelte sie. »Ich bin da … Luise … Rehlein … Und die Kinder warten auf dich. Dorle und Andreas. Komm mit nach Hause …«
»Die Dummheit! O die Dummheit!« Sassner streckte sich. Ein tiefer Seufzer erschütterte seinen massigen Körper. »Ich kann sie ausrotten. Es ist nur ein kleiner Eingriff.«
»Nicht heute«, sagte Luise tapfer und hielt Sassner auf ihrem Körper fest. »Nicht jetzt … später …«
»Die Dummheit ist eine ansteckende Krankheit! Wie eine Seuche breitet sie sich aus. Ich muß etwas tun!«
Er wollte sich mit Gewalt aus ihren Armen befreien, aber die Verzweiflung verlieh Luise ungeahnte Kräfte. Sie rangen im Bett miteinander, bis sie herausfielen und über den Fußboden rollten.
Der Sturz wirkte wie ein Schock. Sassner streckte sich.
»Wie war die letzte Lateinarbeit von Andreas?« fragte er plötzlich mit klarer Stimme.
»Gerd!« Es war ein Aufschrei, der in der Dumpfheit des Zimmers nachklang wie der grelle Ton einer zerspringenden Glocke. Ein unsagbares Glücksgefühl durchströmte Luise. Ich habe ihn wieder, fühlte sie. Ich habe ihn aus seiner schrecklichen Welt des Irrsinns zurückgerissen. Er ist wieder Gerd Sassner … er ist wieder mein Mann, unser Papi. Weinend vor Freude beugte sie sich über ihn und streichelte sein zuckendes Gesicht.
»Er hat eine Vier geschrieben«, sagte sie und küßte Sassners Augen.
»Eine Vier? Das ist eine Schande! Der Bengel war faul! Er kann viel mehr, wenn er nur will. Woran lag es? Grammatik oder Vokabeln?«
»Beides, Gerd.«
»Ich werde mit dem Kerl üben müssen! Und Dorle?«
»Es geht so, Gerd.« Luise legte den Kopf auf seine breite Brust. »Die Kinder vermissen dich. Bis jetzt glauben sie, daß du tot seist. O Gott, welche Freude, wenn du mit mir zurückkommst …«
Mitten im Satz stockte sie. Freude?
Zurück kam ein irrer Mörder. Der Gerd Sassner, der jeden Sonntagmorgen angeln ging und dann singend zu seinem Wochenendhaus zurückkehrte, war wirklich gestorben. Den Fabrikanten Sassner gab es nicht mehr, auch nicht mehr den zärtlichen Vater.
Wenn es ihr jetzt gelang, ihn aus diesem schrecklichen Haus wegzuführen, schlossen sich hinter ihm für immer die Türen einer Heilanstalt. Für das, was Sassner getan hatte, konnte man ihn nicht verantwortlich machen. Sein Gehirn war zerstört, gespalten in zwei Teile, von dem jedes für sich eine geniale Ausstrahlung hatte. Was an ihm Mensch war, war nur eine große fleischige Hülle … was aber den Menschen adelt, die Seele, das Gewissen, das Erkennen von Gut und Böse, war ertrunken im Wahnsinn.
Zurück in das Leben?
Für Gerd Sassner gab es das nicht mehr.
Luise richtete sich auf und sah ihrem Mann tief in die Augen. Diese Augen waren glänzend und von einer glasartigen Starrheit. Wie die künstlichen Augen in Puppen und Schaukelpferden. Nicht eine Regung war in ihnen, nicht ein Widerschein von Freude oder Erkennen. Es war ein gläserner Blick, entblößt von jeglicher Regung.
Mit einer Zärtlichkeit, die erschütterte, streichelte sie
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