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Das Schloß der blauen Vögel

Das Schloß der blauen Vögel

Titel: Das Schloß der blauen Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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als er aus dem Zimmer gehen wollte. »Wir können Dorle und Andreas nicht operieren«, sagte sie mit zugeschnürter Kehle.
    »Warum?«
    »Sie sind krank.«
    »Darum operiere ich ja! Jede Krankheit ist wie das Samenkorn eines Unkrauts. Es zu finden und herauszunehmen, bevor es Wurzeln geschlagen hat oder gar schon blüht, ist meine Aufgabe.«
    »Sie haben die Masern«, sagte Luise mit letzter Kraft. »Es ist ein alter Grundsatz der Medizin, daß man Infektionskranke nicht operieren darf.«
    Sie wußte nicht, ob das wahr war, aber es fiel ihr gerade ein. Sassner schien verblüfft zu sein. Er nickte mehrmals und strich dann Luise wie ein Vater über die Haare. »Richtig! Sie sind eine gute Schwester! Was geben Sie den Kranken?«
    »Ich mache ihnen Wadenwickel …«
    »Wadenwickel!« Sassner stutzte. Dann lachte er laut auf und warf die Arme hoch in die Luft. »Wadenwickel!« brüllte er. »Sie macht Wadenwickel!« Sein mächtiger Körper zitterte, er lachte und lachte, rannte durch das Haus und schrie in jedes Zimmer, dessen Tür er aufriß: »Wadenwickel! Wadenwickel!« Selbst in seinem kleinen Turmzimmer, in das er als letztes kletterte, beruhigte er sich nicht. Er riß die winzigen Fenster auf, zwängte seine breiten Schultern hindurch und schrie den flatternden Krähen zu, über den Dachfirst und hinüber in die hohen, schweigenden Wälder mit greller Stimme: »Wadenwickel! Wadenwickel!«
    Dann hing er aus dem Fenster, keuchend und prustend, sein Kopf pendelte hin und her, und die zahm gewordenen Krähen, die er täglich mehrmals fütterte und die ihn kannten, umkreisten ihn, krächzten ihn an und ließen sich schließlich auf seiner Schulter nieder, als er still lag und seine Arme gegen die Turmwand schleiften.
    Seine blauen Vögel …
    Stumm vor Grauen kletterte Luise die Leiter zur Falltür hinunter und setzte sich unten auf einen Hocker.
    Hier hielt sie Wache und wartete.
    Wie habe ich ihn geliebt, dachte sie, und wie liebe ich ihn noch immer.
    Sie lehnte sich weit zurück an die Wand, faltete die Hände im Schoß und weinte leise.
    Die Nacht, die erste Nacht ohne Ilse Trapps, war still. Sassner lag neben Luise im Bett und schlief fest. Er regte sich kaum, hatte sich auf die Seite gerollt, die Beine angezogen, und atmete stoßweise.
    Die Stunde bis zum Einschlafen, die Luise gefürchtet hatte, war endlich vorbei. So groß ihre innere Gemeinsamkeit mit Sassner war, so sehr hatte sie das Grauen gepackt, wenn sie daran dachte, daß er, neben ihr im Bett, ausgezogen und ihren warmen Leib spürend, sie zu sich hinüberziehen könnte. Die Stunde vor dem Einschlafen war immer Ilse Trapps große Stunde gewesen … Luise wußte es genau. Sie konnte sich vorstellen, wie dieses rote Aas sich nackt neben ihm reckte und sich bewußt war, daß ihre weiße, perlmuttschimmernde Haut ihn anzog wie den Fuchs der Geruch der Fähe; sie stellte sich mit schwerem Herzen vor, wie Sassner über diesen fülligen Körper herfiel, wie alles Tierische in ihm frei wurde und sie so lange miteinander und gegeneinander tobten, bis sie stöhnend und hechelnd auseinanderfielen und einschliefen in völliger Erschöpfung.
    Und so geschah das jede Nacht und jeden Morgen und immer, wenn einer von ihnen im Laufe der Nacht aufwachte oder wenn sie sich begegneten irgendwo in diesem dumpfen, dämmerigen Haus … Ilse Trapps hatte es Luise voll Triumph erzählt wie ein Jäger, der seine herrlichsten Trophäen zeigt: Hier war es und hier und hier … auf dem staubigen Boden, an der Wand, auf dem Schanktisch, in diesem Bett, in jenem Bett, an der Leiter, die zum Turmzimmer führt, überall! Ein Riesenbär, der keine Müdigkeit kennt. Ein menschenähnliches Phantom, dessen Körper nie erschlafft. Ein Monstrum …
    Nun waren sie allein, sie lagen nebeneinander im Bett, und Luise wartete mit Entsetzen auf das, was zur Gewohnheit geworden war wie ein Schlaftrunk, eine Gute-Nacht-Praline, ein Blick in die Zeitung oder in ein Buch, bevor sich die Ruhe über alles senkt.
    Ich wehre mich, dachte sie. Ich schlage um mich! Ich werde mich in seinem Kopf festkrallen und ihm in die Ohren schreien: »Wach auf! Wach auf! Ich bin deine Frau! Ich bin Luise! L-u-i-s-e …«
    Ob es Sinn hat? Er ist so viel stärker als ich. Nur die Flucht könnte helfen! Aber dann wäre er allein. Darf man ihn jetzt allein lassen? Darf ich es?
    So lag sie, innerlich zitternd und regungslos, neben ihm und wartete. Sassner schob sich unter die Decke, dehnte sich und wandte den Kopf zur

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