Das Schloß der blauen Vögel
Seite.
Luise schloß die Augen. Jetzt … mein Gott, laß mich nicht schreien …
»Sie sind müde, Schwester?«
Sassners Stimme war tief und gütig. Luise nickte mit zusammengepreßten Lidern.
»Ja. Sehr.«
»Es war auch ein schwerer Tag. Schlafen Sie sich aus. Wie heißen Sie übrigens, Schwester?«
»Luise …«
»Ein schöner Name.« Er drehte sich auf die Seite, weg von Luise, und lachte in sich hinein. »Luise Wadenwickler, stimmt's?«
»Ja …«
»Was man so alles erlebt! Das Leben ist wie ein Panoptikum!«
Er rückte das Kissen unter seinem zerstörten Kopf zusammen, grunzte zufrieden und schlief nach wenigen Minuten ein.
Die ganze Nacht über lag Luise wach neben ihm. Ab und zu beleuchtete sie sein Gesicht mit der flackernden Petroleumlampe und sah ihn lange an. Jetzt im Schlaf war alles von ihm abgefallen, was der Wahnsinn an ihm verzerrte. Jetzt schlief auch sein zerstörtes Hirn. Jetzt sah er wieder aus wie der Chemiker Gerd Sassner, der Besitzer der chemischen Werke, der zufriedene Familienvater und Ehemann, der Mann, den Luise liebte und mit dem sie zwanzig Jahre die gleiche Wegstrecke gegangen war. Zwanzig Jahre Glück. Ein kurzer Weg, wenn man ihn jetzt überdachte. Ein Weg, an dem man viel mehr Blumen hätte pflücken können, als man es getan hatte.
Gegen zwei Uhr früh schien es Luise, als ob das Fieber in Sassner stärker würde. Sein Kopf glühte, der Atem ging rasselnd. Sie schlüpfte aus dem Bett, rannte ins Badezimmer, tränkte drei Frottierhandtücher mit Wasser und wickelte zwei um Sassners Füße, das dritte legte sie ihm zusammengefaltet auf die Stirn.
Er wachte davon nicht einmal auf, er brummte nur und blieb auf dem Rücken liegen, mit angelegten Armen und Händen, als stehe er im Liegen stramm. Luise setzte sich neben ihm auf die Bettkante und streichelte seine Brust und die breiten Schultern. Es war wie ein Abschiednehmen. Die Ahnung, daß Ilse Trapps in der Freiheit nicht schweigen würde, war übermächtig in ihr. Morgen oder übermorgen würde Kriminalrat Quandt vor dem Hause stehen. Dann war die Trennung endgültig … dann ging auch Gerd Sassners Körper in die Schweigsamkeit.
Am Morgen hatte das Fieber etwas nachgelassen, der Kopf fühlte sich normal an, das Herz hämmerte nicht mehr so wild.
Sie wickelte die Handtücher wieder ab, warf sie über einen Stuhl und schlief erschöpft ein, obwohl sie es nicht wollte.
Klappern von Geschirr weckte sie. Sie fuhr im Bett hoch und sah Sassner, wie er den alten Tisch deckte mit Tassen, Tellern, einem Korb geschnittenem Brot, Butter, Marmeladegläsern, Käse und Sahne. Der Duft von Kaffee und gebratenen Eiern vermischte sich.
Sonntag.
Die ganze Familie schlief noch. Gerd Sassner, ein Frühaufsteher, war leise aus dem Bett geklettert, hatte sich geduscht und dann in der Küche selbst das Frühstück bereitet. Mit einer kindlichen Freude brachte er dann das große Tablett in die Zimmer … zuerst zu den Kindern, die er weckte, indem er Dorles Kofferradio andrehte und Andreas' Zweiklangwecker schnarren ließ, dann zu Luise, die er mit einem Kuß aus dem Schlaf riß und fröhlich sagte: »Wie kann man schlafen, wenn einem die Sonne auf der Nasenspitze tanzt? Du hattest eine ganz goldene Nase, Rehlein …«
Sonntagmorgen.
Das kam nie wieder …
Luise legte sich wieder zurück und beobachtete Sassner beim Tischdecken. Schluchzen würgte ihr die Kehle. Es ist vielleicht unser letzter Tag, Gerd, dachte sie. Unser letztes gemeinsames Frühstück … und du bringst es mir ans Bett wie früher. Sollen wir noch einmal, für ein paar Stunden, die furchtbare Gegenwart auslöschen …?
Es war fast genau die gleiche Stunde, in der Ilse Trapps von Hamburg aus in Stuttgart anrief und das Schloß der blauen Vögel verriet.
»Guten Morgen«, sagte Sassner freundlich, als er merkte, daß Luise wach war und ihm zusah. »Ich nehme an, Sie mögen Spiegeleier mit Schinken?«
»Ja. Aber durchgebraten, nicht mit flüssigem Eigelb.«
»Wie gewünscht!« Sassner hob die kleine Emaillepfanne und zeigte sie Luise. »Gut so?«
»Sehr gut.«
Luise hörte ihre Stimme wie einen fremden Laut. Es war kein Klang mehr in ihr.
»Dann können wir.« Er schob den Tisch ans Bett und setzte sich neben Luise auf die Bettkante. Er war angezogen, als käme er von der Visite. Aus der linken Tasche seines weißen Kittels sahen die zusammengerollten Schläuche eines Membranstethoskops hervor. »Die Kranken sind schon versorgt«, sagte er leichthin.
Sie tranken
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