Das Schloß der blauen Vögel
Mauern des Schweigens und der Arroganz einrennt. Die großen Taten der Medizin kamen immer von Außenseitern, die man verlachte, verleumdete, bekämpfte. Semmelweis, Robert Koch, der junge Sauerbruch, Forssmann – man könnte eine lange Liste aufstellen. Heute sind ihre Erkenntnisse Allgemeingut der Medizin, aber erst nach einem entnervenden Kampf gegen Borniertheit und Ordinarius-Unfehlbarkeit. Warum will keiner der Herren etwas von den Forschungen mit der Ribonukleinsäure wissen?«
»Es ist zu phantastisch.«
»Die Medizin der Neuzeit wird sich immer mehr auf Gebiete begeben, die man phantastisch nennt. Man kann nicht stehenbleiben bei dem Wissen, wie ein Magen von innen aussieht. Man wird eines Tages auch wissen, warum und wieso es möglich ist, daß man einen Menschen lieben oder hassen kann. Man wird die Seele entdecken …«
»Hier ist es, wo ich nicht mehr folgen kann.« Dr. Hugenbeck nahm sich mit unsicheren Fingern eine Zigarette aus dem Silberkasten. »Aber darüber sollten wir uns nicht unterhalten, das führte zu keinem Abschluß. Es geht um Ihre nächste Zukunft, Herr Professor. Die Ärztekammer hat sich überzeugen lassen, daß die Anschuldigungen gegen Sie haltlos sind.«
»Danke«, sagte Dorian kurz. In seinen Mundwinkeln lag ein Lächeln.
»Das Innenministerium ist der Überzeugung, daß die Fortführung der Klinik Hohenschwandt gerechtfertigt ist. Mit der Staatsanwaltschaft werden wir noch reden. Auch Juristen sind ja Menschen.«
»Sie machen mir diesen Glauben manchmal sehr schwer.« Dorian lehnte sich zurück und sah an die reichverzierte Stuckdecke. »Es liegt also nichts gegen mich vor?«
»Nichts, Herr Professor.«
»Das beruhigt mich.« Dorian breitete die Arme über die Sessellehnen aus. »Ich darf Ihnen versichern, daß die Originale aller Dokumente aus Bad Wiessee ab sofort in einem Schweizer Banktresor vergraben werden. Ich sehe davon ab, sie der Öffentlichkeit bekanntzugeben.«
»Danke. Damit ist meine Mission erfüllt.« Dr. Hugenbeck erhob sich schnell. »Zu einer Übergabe der Dokumente an mich könnten Sie sich nicht entschließen?«
»Nein. Sie werden das verstehen.«
»Natürlich. Geladene Geschütze machen eine Festung uneinnehmbar.«
»Genauso ist es, lieber Hugenbeck.«
Am Nachmittag fuhr auch Dr. Hugenbeck nach München zurück. Er war, im ganzen gesehen, zufrieden. Die Sache mit dem Schweizer Banktresor mußte hingenommen werden. Auf jedem noch so glatten Gesicht ist irgendwo ein Pickel …
Professor Abendroth erwartete ihn schon zu Hause. »Nun?« fragte er. »Wie ist es ausgegangen?«
»Wie das Hornberger Schießen! Dorian ist wieder oben und sicherer als bisher.« Dr. Hugenbeck warf seine Aktentasche auf den Tisch. »Er ist nicht zu kriegen!«
»Abwarten!« Professor Abendroth schüttelte den Cognac in dem großen Schwenker und sah über den Glasrand hinweg ins Weite. »Man wird ihn totschweigen müssen. Keine Reaktion, keine Diskussion, völlige Stille um das, was Dorian heißt, tötet auch! Wir werden ihn medizinisch einbalsamieren und begraben.«
Nach der Übernachtung in Hannover kam Ilse Trapps am Nachmittag in Hamburg an. Sie hatte sich in Hannover neu eingekleidet, unauffällig, züchtig, eine biedere, dralle, schwarzhaarige Frau, die sehr gut die ›bessere Hälfte‹ eines Beamten sein konnte.
Wie sehr Haarfarbe und Kleidung einen Menschen verändern, dachte sie, als sie im Spiegel des Kaufhauses ihren neuen Anblick genoß. Alle erotische Ausstrahlung ist hin, selbst wenn ich den Busen vorstrecke, wirkt es hausbacken. Und plötzlich erkannte sie, daß sie gar nicht hübsch war, daß sie ein Alltagsgesicht hatte, eine pummelige Figur, etwas zu dicke Waden und einen zu runden Hintern. Mit der langen rothaarigen Mähne und den kurzen Kleidern hatte das alles ganz anders ausgesehen, hatte es aufreizend, unwiderstehlich gewirkt … Jetzt würde sich niemand mehr nach Ilse Trapps umdrehen, wenn sie durch die Straßen ging.
In diesem Moment zögerte sie, ob sie das neue Ich auch wirklich annehmen sollte. Ein paar Minuten lang kämpften weibliche Eitelkeit und Vernunft miteinander, dann siegte die Angst vor dem Zuchthaus.
In ein, zwei Jahren kann man wieder rot und sexy sein, dachte sie. Wer spricht dann noch von Sassner? Und zwei Jahre wird man durchhalten können. Auch für die neue Ilse Trapps gibt es Männer genug.
Bis zum Abend hatte sie ein möbliertes Zimmer gefunden. Die Zeitungen waren voller Angebote. Es war ein sauberes Zimmer in St.
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