Das Schmetterlingsmädchen - Roman
sehen. Aber eine Rose in ihrem Herzen? War das wirklich alles, was sie ihnen beiden zu bieten hatte?
Trotzdem begleitete Cora sie zum Zug, als sie aufbrechen musste. Sie hatte keine Zeit, wütend zu werden; diese letzten paar Minuten waren alles, was ihr blieb. Mary O’Dell hatte nicht nach ihrer Adresse in Kansas gefragt. Sie gab nicht einmal vor, dass es ein weiteres Treffen geben könnte. Der Abschied, der bevorstand, war so endgültig wie der Tod. Und so unglücklich sie auch war, Cora wollte bis zum Schluss durchhalten.
Später würde sie über diese letzten Minuten und ihre Unfähigkeit, sie aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, froh sein. Denn erst als sie auf dem schwach erleuchteten Untergrundbahnsteig standen, wo andere Fahrgäste bereits in den Zug stiegen, hatte Cora Zeit, über das, was sie schon vorher gewusst hatte, nachzudenken und es mit dem, was sie gerade erfahren hatte, in Einklang zu bringen.
»Mary.« Cora schien es die einzig mögliche Anrede zu sein. Die Frau neben ihr war nicht Mutter. Aber »Mrs. O’Dell« hätte grausam geklungen. »Wie alt war ich, als du weggegangen bist?«
Sie drehte sich nicht zu Cora um, sondern starrte auf den wartenden Zug. Im Profil oder vielleicht auch nur in diesem Moment sah sie plötzlich älter aus, mitgenommener, die blasse Haut unter ihren Augen schlaff. »Sechs Monate. Genau sechs Monate. Sie haben gesagt, so lange müsste ich mindestens bleiben, um dich zu stillen.«
Sechs Monate. Genau sechs Monate. Sie war also am ersten Tag gegangen, an dem es ihr erlaubt war. Sinnlos, die Dinge unnötig in die Länge zu ziehen. Aber Cora dachte an die Zwillinge mit sechs Monaten, ihren Geruch nach Milch, ihre tastenden Hände. So schlecht es ihr nach der Geburt der beiden auch gegangen war, sie hätte sich eher beide Arme abgeschnitten, als ihre Kinder zu verlassen, und auch sie war erst siebzehn gewesen. Aber das ließ sich nicht vergleichen. Mary O’Dell hatte keinen Ehemann gehabt, keinen fürsorglichen Alan, nur ihre Entschlossenheit, sich zu retten. Und es hatte keinen Zweck, wütend zu werden, nicht jetzt, wenn nur wenig Zeit blieb und es immer noch Fragen gab.
»Aber ich bin erst mit drei ins Waisenhaus gekommen«, sagte Cora. »In den Akten steht, dass ich direkt von der Florence Night Mission kam, ich muss also jahrelang dort gewesen sein. Ohne dich.«
Mary O’Dell sah Cora beschämt an. »Das tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe sie gebeten, sofort ein Zuhause für dich zu finden, ein katholisches Zuhause. Ich wollte nicht, dass du bei diesen … diesen Frauen bleibst, die sie aufgenommen haben.« Sie zog ihre Schultern zusammen. »Ich hatte Angst, eine von ihnen könnte versuchen, dich mitzunehmen. Mich mochten sie nicht besonders, das war klar, aber sie alle wollten dich im Arm halten und herumreichen. Ich hatte solche Angst. Es waren Straßenmädchen, weißt du. Oder zumindest sehr unmoralische Mädchen. Ein paar von ihnen hatten Krankheiten oder waren vom Trinken zerstört. Wahrscheinlich konnten sie selbst keine Kinder bekommen.«
Cora wandte sich ab. So wenig Mitgefühl. Aber sie musste fragen. Jetzt oder nie. »Erinnerst du dich an eine Frau mit langem, dunklem Haar? Und einem Umhängetuch? Die nicht Englisch gesprochen hat?«
»Ach, das könnte jede von ihnen gewesen sein. Sie liefen alle mit offenem Haar herum und zeigten ihre Knöchel. Und ich war die Einzige mit einem anständigen Mantel.« Sie sagte es, als wäre es eine besondere Leistung. »Aber ich erinnere mich nicht an ein bestimmtes Umhängetuch oder eine bestimmte Frau.« Sie sah Cora stirnrunzelnd an. »Warum fragst du?«
»Aus keinem bestimmten Grund«, sagte Cora. Sie hätte nie gedacht, dass die Frau mit dem Tuch eine echte Erinnerung und trotzdem ohne Bedeutung war. Vielleicht hatte die Frau, an die sie sich erinnerte, sie nur einmal im Arm gehalten. Oder vielleicht war sie nur eine von vielen Frauen in der Mission, die sie gehalten hatten, als sie sieben Monate, acht Monate, ein Jahr alt war. Wie auch immer, es gab niemanden, nach dem sie suchen könnte. Und Mary O’Dell musste zurück nach Massachusetts ohne den Dorn in ihrem Auge, nur mit der Rose im Herzen. Gut so, dachte Cora, denn den Strauß echter gelber Rosen hatte sie auf dem Stuhl im Speisesaal vergessen. Cora war es aufgefallen, als sie gingen, und fast hätte sie etwas gesagt, aber dann war ihr klar geworden, dass die Blumen vielleicht absichtlich zurückgelassen wurden. Vermutlich wusste in Haverhill niemand,
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