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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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Willst du vergewaltigt werden? Und nicht nur das. Sie beugte sich vor und versuchte, eine Hand auf das Knie des Mädchens zu legen. Aber Louise bog es weit weg vor ihr.
    »Louise. Deine Mutter war im Unrecht. Du warst ein Kind. Ein unschuldiges Kind.« Und war sie es nicht immer noch? Cora sehnte sich danach, sie irgendwie zu erreichen, zu trösten, über ihr schwarzes Haar zu streichen.
    »Als ich reinging, vielleicht. Aber als ich rauskam, nicht mehr.« Sie musterte Cora kühl. »Gehen Sie mit Mutter nicht zu hart ins Gericht. Sie hatte recht. Die Leute hätten über mich geredet.« Ihre Augen verengten sich. »Das hätten Sie auch getan. Sie als Allererste. Weil mein Konfekt ausgepackt worden war, richtig?«
    Cora empfand es wie einen Schlag ins Gesicht, ihre eigenen Worte wiederzuerkennen. Sie hob ihre Hände. »Vergiss, was ich über Konfekt gesagt habe. Bitte. Das hat nichts mit dem zu tun, was du mir gerade erzählst. Vergiss bitte, dass ich das gesagt habe.«
    »Ich werde gar nichts vergessen.«
    Sie sahen einander an, und Cora machte zum ersten Mal die bedrückende Erfahrung, sich so zu sehen, wie Louise sie sah. Eine verstörte alte Schachtel und Heuchlerin. Eine dumme, wenn auch pflichtbewusste Person, die ihre Pflicht Louise gegenüber unmöglich erfüllen konnte. Sie war den ganzen Sommer über blind und dumm gewesen, eine unglückliche Frau, die kränkende, lächerliche Binsenweisheiten über Konfekt und Tugend von sich gab und einem verletzten Kind Lügen auftischte. Waren es etwa keine Lügen? Wusste sie das nicht selbst am besten? Was war denn der wahre Wert ihrer eigenen Jungfräulichkeit, ihrer Unwissenheit mit siebzehn gewesen? Warum hatte sie diesem Mädchen unbedingt beibringen wollen, sich über den Wert dieser Eigenschaften genauso falsche Vorstellungen zu machen wie sie selbst? Warum? Was hatte sie davon?
    Louise drehte sich um und hielt sich am Badewannenrand fest, um auf die Knie zu kommen. Auf ihren Waden waren rote Abdrücke von den Bodenkacheln.
    »Ich möchte mir die Zähne putzen«, murmelte sie und stand auf.
    Cora nickte. Sie dachte daran, eine Hand auszustrecken und mit dieser stummen Geste das Mädchen zu bitten, ihr aufzuhelfen, aber sie war ziemlich sicher, dass Louise ablehnen würde. Sie langte nach dem Waschbeckenrand und hievte sich hoch, mit dem Gefühl, älter und elender zu sein, als sie tatsächlich war.
    »Könnte ich vielleicht allein sein?«, fragte Louise, ohne sie anzusehen. »Ich muss mal.«
    Cora verließ mit steifen Schritten das Badezimmer. Unschuldig, als ich reinging, aber nicht mehr, als ich rauskam. Der Vorhang vor dem Fenster, wo sie vor fünfzehn, zwanzig Minuten ängstlich und erzürnt Wache gehalten hatte, war immer noch zurückgezogen. Als sie ihn zuzog, sah sie, dass die Straßenlaternen noch brannten, obwohl der Betrieb auf der Straße und den Bürgersteigen nachgelassen hatte. War es vier? Nach vier? Sie legte sich auf ihre Seite des Bettes und zog sich das dünne Leintuch bis ans Kinn. Sie wollte aufpassen, ob Louise zu Bett ging und wenigstens noch ein bisschen Schlaf bekam. Aber sie verstand, dass das Mädchen ein wenig Privatsphäre oder zumindest den Anschein von Privatsphäre brauchte, auch für die wenigen Tage, in denen sie sich dieses Zimmer noch teilen würden. Cora drehte sich zur Wand und schloss die Augen, obwohl sie jetzt schon wusste, dass sie nicht schlafen würde.

16
    Der hakennasige Russe im Lebensmittelgeschäft an der Ecke teilte Cora mit, dass sie seine erste Kundin an diesem Morgen wäre, und plauderte munter weiter, bis ihm ihr leerer, müder Blick auffiel. Ohne weiter Konversation machen zu müssen, kaufte sie eine New York Times , einen Laib Brot, Erdbeermarmelade, ein Stück Butter, eine Dose schwarzen Tee und sechs Orangen. Auf der Straße war es noch ruhig, die Luft angenehm, beinahe kühl, und die Sonne fing erst an, den Himmel zu erhellen.
    Der Eingang ihres Hauses sah aus wie immer, nichts wies auf das Drama hin, das sich hier vor wenigen Stunden abgespielt hatte. Auf dem Weg nach oben sah sie Louises Schuh, der zwischen dem ersten und zweiten Stock mit dem Absatz im Geländer steckte.
    Sie betrat leise das Apartment und stellte Louises Schuh auf den Boden und ihre Einkäufe auf den Schreibtisch. Dann setzte sie Wasser für den Tee auf, schlüpfte aus ihren Schuhen und ging ins Schlafzimmer. Louise lag auf der Seite und schlief mit angewinkelten Armen und Beinen. Ihre Hände verdeckten den Großteil ihres Gesichtes,

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