Das Schmetterlingsmädchen - Roman
Erinnerung oder die Erinnerung einer Erinnerung oder vielleicht nur ein Bild aus einem Traum: eine Frau mit dunklem Haar, lockig wie ihr eigenes, die ein rotes gestricktes Umhängetuch trug. Es war ihre Stimme, die am deutlichsten in Coras Erinnerung oder Einbildung haften geblieben war. Sie sagte unbekannte Worte in einer fremden Sprache und auch Coras Namen.
»Bin ich ein Waisenkind?«, fragte Cora.
»Ja«, sagte Mary Jane. Aufgrund ihrer Aussprache behaupteten die anderen Mädchen, sie sei irisch. »Das sind wir alle. Deshalb sind wir hier.«
Die Nonnen sprachen vor jeder Mahlzeit ein Gebet. Weil du die Armen errettet hast, die um Hilfe flehten, und die Vaterlosen, die keinen Beistand hatten. Die Mädchen mussten nur warten und sich dann bekreuzigen und sagen: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Zum Frühstück und zum Mittagessen gab es unweigerlich Haferbrei. Auch die Nonnen aßen Haferbrei. Manchmal gaben sie Rosinen hinein, und wenn das der Fall war, stemmte Cora beim Essen ihre Ellbogen neben den Teller, weil einige der älteren Mädchen lange Finger machten. Zum Abendessen gab es Bohnensuppe mit Gemüse, und wenn jemand so dumm war, sich zu beschweren, bekamen sie einen Vortrag über Dankbarkeit zu hören und dass viele Kinder auf New Yorks Straßen für drei Mahlzeiten am Tag, ganz zu schweigen von einem Dach über dem Kopf, alles geben würden. Wenn das Mädchen, das sich beschwert hatte, sich damit nicht zufriedengab, schlug gewöhnlich eine der Nonnen vor, es könnte gern gehen und Platz für ein wirklich hungriges Kind machen, das froh wäre, sein Bett und seine Mahlzeiten zu bekommen. Es würden genug Kinder darauf warten.
Das schien zu stimmen. Wenn ein neues Mädchen kam, war es fast immer dünner und viel schmutziger als Cora und die anderen. Die Nonnen mussten den Neuen die Haare scheren, weil viele von ihnen direkt aus den Slums oder von der Straße kamen und oft Kopfläuse hatten. Neue Mädchen aßen ihren Haferbrei schnell auf und kratzten mit ihren Löffeln die Schüsseln leer, und die Nonnen gaben ihnen zwei und sogar drei Mal nach, bis sie zunahmen und den toten Blick in ihren Augen verloren und ihre Haare wieder nachwuchsen. Nur Patricia war mollig gewesen, als sie kam, und ihr hübsches blondes Haar wurde nicht geschoren, und sie war es auch, die über das Essen maulte und Grimassen schnitt, wenn die Nonnen nicht hinsahen. Patricia vertraute Cora an, dass sie, sogar wenn sie wach war, von Pasteten und Käse und Rauchfleisch träumte. Cora wusste, dass es so etwas wie Rauchfleisch gab, weil es auf dem Dach manchmal so gut roch, dass sie am liebsten in die Luft hineingebissen hätte, und ein anderes Mädchen ihr erzählte, dass der Geruch von Fleisch käme, das über offenem Feuer geräuchert wird. Aber die anderen Sachen, von denen Patricia träumte, hatte sie noch nie gekostet, zumindest nicht dass sie wüsste, und deshalb litt sie im Gegensatz zu Patricia nicht unter ihrem Verlust.
Cora konnte sich nicht erinnern, jemals anderswo als im Heim gewesen zu sein. Big Bess, die fast dreizehn war, sagte, dass sie sich an Coras Ankunft erinnerte und dass sie kein Baby, sondern ein rundliches Kleinkind gewesen war, das beinahe schon laufen konnte und aufblickte, wenn es seinen Namen hörte. Aber das war alles, was sie wusste. Einmal fragte Cora Schwester Josephine, wer sie hergebracht hatte und wo sie vorher gewesen war. Aber selbst Schwester Josephine, die bei Weitem die netteste Nonne war, deren Zahnlücken beim Lächeln deutlich zu sehen waren und die nie mit dem Stock drohte – selbst sie hatte energisch zu Cora gesagt, dass derartige Fragen ungehörig wären und sie sich als Kind Gottes betrachten solle, und zwar eines, das Glück gehabt hatte.
Eines Tages, nicht lange nachdem sie ihren ersten Zahn verloren hatte, sollte Cora noch mehr Glück haben. Zumindest sagte man ihr das damals. Schwester Delores wollte mit ihr und sechs anderen jüngeren Mädchen einen kleinen Ausflug machen. Sie müssten ihr bestes Benehmen an den Tag legen und leise gehen, während die anderen in der Wäscherei arbeiteten, hieß es. Sie müssten sofort aufbrechen. Sie müssten ihre Pullover zuknöpfen, weil es draußen frisch sei.
Cora, die Mary Janes Hand hielt, ging davon aus, dass sie rechtzeitig zum Abendessen zurück sein würden. Sie empfand nur Aufregung, eine prickelnde Vorfreude auf diesen Ausbruch aus der Routine, als sie und Mary Jane Patricia und Little Rose und den
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