Das Schmetterlingsmädchen - Roman
anderen glücklichen Mädchen folgten, die hinter Schwester Delores die Treppe hinunter, durch die große Eingangstür und schließlich durch das Tor auf die Straße gingen, die Cora bisher nur von einem der oberen Fenster kannte. Sogar Mary Jane, die schon fast alle ihre Milchzähne verloren und neue bekommen hatte und eine perfekte Brücke machen konnte, wirkte eingeschüchtert. Sie folgten Schwester Delores um eine Ecke, und auf einmal waren überall Leute, einige zu Fuß, andere in Kutschen, und dazu das Klippklapp von Pferdehufen. Sie mussten große Schritte machen, um den Haufen auf der Straße auszuweichen, die laut Schwester Delores von den Pferden kamen. Cora zog sich den Kragen ihres Pullovers vor ihre Nase und atmete durch die Wolle. Schwester Delores raffte von Zeit zu Zeit ihre Röcke, und Cora sah ihre schwarzen Strümpfe. Beide waren über der Ferse eingerissen, sodass ihre weiße Haut durchschimmerte.
An der nächsten Ecke blieb Schwester Delores stehen und teilte ihnen mit, dass sie dort auf den Omnibus warten würden. Keine von ihnen wusste, was ein Omnibus war, aber sie hatten zu viel Angst vor Schwester Delores, um sie zu fragen. Im Omnibus, sagte sie, müssten sie still auf ihren Plätzen sitzen, so nah bei ihr wie möglich. Sie dürften nicht mit Fremden sprechen oder versuchen, sich mit jemandem anzufreunden. Im Bus gäbe es ein Seil, das sich von vorn bis hinten über die ganze Länge spannte und am Knöchel des Fahrers befestigt war. Weil sie wüsste, dass die Kinder wegen des Seils neugierig sein würden, wollte sie ihnen jetzt gleich sagen, dass es dazu diente, dem Fahrer mitzuteilen, wann er anhalten sollte. Wenn man aussteigen wollte, zog man an dem Seil, und der Fahrer blieb stehen. Schwester Delores hoffte, die Kinder würden daran denken, dass sie selbst als Einzige in ihrer Gruppe das Seil berühren durfte, weil sie als Einzige wusste, wo sie hinwollten. Falls eines der Mädchen es für witzig hielt, am Seil zu ziehen und den Fahrer grundlos halten zu lassen, nun gut. Aber die Betreffende sollte sich darüber im Klaren sein, dass sie aussteigen musste, wenn der Omnibus stehen blieb, und zwar allein.
Im Omnibus, der sich als von einem traurigen braunen Pferd gezogener, überdachter Wagen mit Sitzbänken entpuppte, saßen die Mädchen ganz still da, die Hände fest im Schoß verschränkt. Keine berührte das Seil oder warf auch nur einen Blick darauf.
Ihr Bestimmungsort war ein rotes Ziegelgebäude mit hohen Fenstern und dem Geruch nach Fischleber. Als sie eintraten, begrüßte Schwester Delores eine bebrillte Frau, die keine Nonne war, und sagte zu ihr, dass sie gern einen Moment mit ihren Mädchen sprechen würde. Die bebrillte Frau lächelte und wies sie in ein Zimmer mit einem Kreuz und einem Bild von Jesus und einer Flagge der Vereinigten Staaten an der Wand. Es standen Holzstühle herum, die meisten davon in Kindergröße. Als die Frau, die keine Nonne war, ging, forderte Schwester Delores die Mädchen auf, Platz zu nehmen, setzte sich selbst auf einen der höheren Stühle, lächelte sie mit ihrem hübschen Gesicht an und teilte ihnen mit, dass sie eigentlich gar keinen kleinen Ausflug machten. Tatsächlich, fuhr sie immer noch lächelnd fort, würden sie ein großes Abenteuer erleben, und zwar dank der Children’s Aid Society, die sehr viel Geld gesammelt hatte, um Mädchen wie ihnen zu helfen.
»Ihr kommt aus dem Waisenhaus heraus«, verkündete sie und sah dabei freundlicher und glücklicher aus als je zuvor, und Cora erlebte zum ersten und einzigen Mal, dass ihre großen blauen Augen strahlten. »In wenigen Stunden geht euer Zug. Ihr werdet sehr, sehr weit wegfahren, weil es im Mittelwesten, in Ohio und Missouri und Nebraska, gute Menschen gibt, die ein Kind in ihrem Heim aufnehmen wollen.« Wieder lächelte sie und presste ihre Handflächen aneinander. »Ihr werdet alle eine Familie bekommen.«
Cora spürte, wie ihr das Blut in den Adern stockte. Sie sah Mary Jane an, die wie betäubt wirkte, aber ein seltsames Lächeln auf dem Gesicht hatte. Cora schüttelte den Kopf. Sie hatte Angst vor Schwester Delores, aber noch mehr Angst hatte sie vor dem Zug. Sie wollte nicht nach Ohio. Und Betsy. Betsy war nicht bei ihnen.
»Ich habe eine Familie«, sagte Patricia. Schon klang ihre Stimme weinerlich, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Meine Mutter ist im Krankenhaus. Dann weiß sie doch nicht, wo ich bin.«
Rose sagte, dass sie auch nicht aus New York wegkönnte.
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