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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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Blick auf das Bild von Jesus. Den Mädchen war klar, dass sie jetzt nicht sprechen durften. Selbst im Profil, das Gesicht halb von ihrem Schleier verdeckt, war Schwester Delores’ Kummer nicht zu übersehen.
    »Wir lieben alle Kinder Gottes.« Sie wandte den Blick nicht vom Bild. »Aber nur ein paar dürfen mitfahren.«
    Sie holte tief Luft und straffte die Schultern. Sie erhob nicht ihre Stimme. Das war nicht nötig. Ihr ruhiger Ton und ihr harter Blick sprachen deutlich genug.
    »Ich sage es euch noch einmal. Wer hier sitzt, hat großes Glück gehabt. Und zu eurem eigenen Besten garantiere ich, dass jede von euch in diesen Zug steigt.«
    Sie wussten nicht, dass sie Teil eines Exodus waren, einer Völkerwanderung, die sich über einen Zeitraum von mehr als siebzig Jahren erstreckte. Sie wussten nicht, dass die Children’s Aid Society ganze Züge mit den notleidenden Kindern der Großstadt gefüllt hatte und immer noch füllte und vor Beendigung des Programms nahezu zweihunderttausend von ihnen zu einem im Allgemeinen leichteren Leben bei den Farmern des Mittelwestens mit fruchtbaren Feldern und guter Landluft, sauberen Straßen und Kirchenpicknicks schickte, zu seriösen jungen Ehepaaren, die sich ein Kind wünschten.
    Oder eine Hilfskraft für die Feldarbeit. Einen kleinen Sklaven. Einen Sklaven, der völlig von ihnen abhängig war, der stundenlang bei Hitze und Kälte arbeiten konnte, der nicht viel zu essen brauchte. Ein Gefangener, den niemand vermissen würde, der innerhalb der eigenen vier Wände geschlagen, ausgehungert, gequält, ausgezogen und missbraucht werden konnte.
    Der Ablauf war praktisch immer gleich. Einige Wochen bevor wieder ein Zug abfuhr, wurden in etlichen Orten Flugzettel verteilt: Heim für Kinder beiderlei Geschlechts gesucht. Verschiedene Altersgruppen. Wohlerzogen. Dass sie weiß waren, musste nicht extra erwähnt werden. Ort und Zeitpunkt der Übergabe wurden später bekannt gegeben.
    Die Züge fuhren nicht jedes Jahr in dieselben Städte. In der Annahme, dass die Chancen in einer Gemeinde, in der es noch nicht von Waisenkindern wimmelte, besser standen, ging die Gesellschaft nach dem Rotationsprinzip vor. Und man konnte unter so vielen Kleinstädten wählen, die entlang der Bahnlinien entstanden waren. Die Agentinnen, die Frauen mit den Listen, die ebenfalls mitfuhren, sagten den Kindern, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, wenn sie nicht gleich bei den ersten Stationen eine Familie fanden. Babys wurden immer zuerst genommen. Wenn die Kleinsten erst einmal untergebracht waren, hatten auch die Älteren eine Chance, versicherten die Frauen.
    Aber sie wurden trotzdem gedrillt. Man brachte ihnen bei, zu lächeln, wenn sie angelächelt wurden, und auf Kommando Jesus liebt mich zu singen. Die Mädchen lernten, wenn potenzielle Eltern sie aufforderten, ihre Röcke zu lupfen, diesem Wunsch nachzukommen, um zu zeigen, dass ihre Beine gerade waren. Die Leute hatten das Recht zu wissen, was sie bekamen. Auf dem Platz vor Cora saßen zwei rothaarige Jungen. Sie hielten sich sogar im Schlaf an den Händen. Der ältere sagte der Agentin, dass sie Brüder wären und nicht getrennt werden dürften. Sie versprach ihnen, ihr Bestes zu tun.
    Wenn der Zug eine neue Stadt erreichte, wurden die Kinder hergerichtet. Ihre Hände und Gesichter wurden gewaschen, ihre Haare gekämmt, ihre Kleidung gewechselt. Noch bevor sie New York verließen, waren sie gebadet worden und hatten nicht nur eine, sondern zwei Garnituren neuer Kleidung bekommen, eine für die Fahrt und eine schönere für die Auswahl. Sie hatten warme Mäntel und Schuhe, die ihnen wirklich passten, Mützen für die Jungen, Haarbänder für die Mädchen. Die Agentinnen waren Experten darin, Haare zu kämmen und Schuhbänder zu schnüren und Spuren von Tränen oder unterbrochenen Nickerchen zu beseitigen. Wenn die Kinder sauber und vorzeigbar waren, wurden sie auf eine Art Bühne geführt, meistens in einer Kirche oder einem Theater oder einem Opernhaus. Es war immer brechend voll. Viele Leute kamen nur, um sich das Spektakel anzuschauen.
    Schon damals wusste Cora, in welcher Gefahr sie schwebte, wenn sie mucksmäuschenstill auf der Bühne stand, während die Erwachsenen ausschwärmten, um sie und die anderen Kinder zu begutachten, sie aufforderten, den Mund aufzumachen und ihre Zähne zu zeigen. Sie war froh, dass sie kein Junge war. Männer wie Frauen kniffen in die dünnen Arme der Jungen, um Muskeln zu ertasten, und pressten ihre Hände

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