Das Schmetterlingsmädchen - Roman
an Knie und schmale Hüften. Einige machten keinen Hehl aus ihren Ansprüchen. Hast du schon mal eine Kuh gemolken? Hast du schon mal Mais enthülst? Bist du kränklich? Waren deine Eltern kränklich? Weißt du, was harte Arbeit bedeutet? Aber es war auch nicht besonders gut, ein Mädchen zu sein. Bei einem Halt hörte Cora, wie ein Mann mit langem Bart einem älteren Mädchen mit dicken schwarzen Zöpfen sagte, wie hübsch sie war und dass er vor ein paar Jahren seine Frau verloren hatte und jetzt ganz allein im Haus war, dass es ein großes Haus war, und ob sie Babys mochte? Statt einer Antwort fing das Mädchen krampfhaft an zu husten und hielt sich nicht einmal die Hand vor den Mund. Sie hustete, bis ihr Gesicht so rot war, als würde sie ersticken, und der Mann weiterging. Als er mit grimmiger Miene an Cora vorbeimarschierte, fing auch sie an zu husten.
Rose war die Erste aus ihrer Gruppe, die ging. Cora sah nicht einmal, wer sie mitnahm. Sie war so nervös gewesen, als sie auf der Bühne stand, dass es ihr gar nicht auffiel und sie erst bemerkte, dass Rose nicht mehr da war, als sie wieder im Zug saßen und sie die Sitzbank für sich allein hatte. Mary Jane wurde beim nächsten Halt genommen. Sie sprang förmlich in die Arme eines jungen Manns mit Stock und schwarzem Mantel, der sie fragte, ob sie gern ein eigenes Pony hätte. Seine Frau war sehr hübsch, in ihrem langen grünen Rock mit einer dazu passenden schicken Jacke und den blonden Locken, die unter ihrem Hut hervorquollen. Mary Jane drehte sich um und winkte Cora mit einem Aufblitzen von Abschiedsschmerz in den Augen zu, bevor sie den Mann anschaute, wieder lächelte und zur Tür hinausging.
Cora sah auch Patricia nicht gehen.
Bei ihrem ersten Halt in Kansas war mehr als die Hälfte der Kinder weg, aber Cora war immer noch nicht ausgewählt worden. Sie wusste, dass sie zum Teil selbst schuld war. Einige Kinder sangen auf jeder Bühne das Lied über Jesus, und sie zogen tatsächlich mehr Aufmerksamkeit auf sich. Aber Cora war zu schüchtern. Und auf ihre kindliche Art zu misstrauisch. Sie erinnerte sich an die Märchen, die Schwester Josephine ihnen erzählt hatte, Hänsel und Gretel und Schneewittchen. Bestimmt konnten sich auch die Leute, die auf die Bühnen traten, verkleiden und vor den Agentinnen gütig und freundlich erscheinen, um sich später, wenn sie außer Sichtweite waren, in Hexen und Menschenfresser zu verwandeln. Sie fragte sich, was passieren würde, wenn sie überhaupt keiner haben wollte, wenn sie immer weiter auf irgendwelchen Bühnen stehen und mit dem Zug fahren musste, bis – wohin? Der Zug konnte nicht endlos weiterfahren. Die Agentinnen mussten irgendwann nach New York zurück. Wenn sie dann immer noch nicht vergeben war, konnte sie vielleicht mit ihnen zurückfahren.
An diesem Gedanken hielt sie fest, als sie die Kaufmanns zum ersten Mal sah. Sie waren beide hochgewachsen, schlaksig und sehr hellhäutig. Cora starrte sie eher aus Neugier als aus persönlichem Interesse an. Der Mann war älter als die Frau, mit tiefen Stirnfalten und dünnen, blutleeren Lippen. Die Frau war jünger, vielleicht seine Tochter, aber sie war nicht hübsch wie die Frau im grünen Kleid, die Mary Jane mitgenommen hatte. Diese Frau hatte kleine, blasse Augen und eine spitze Nase. Eine Haube aus kariertem Baumwollstoff bedeckte ihr Haar.
»Hallo«, sagte sie zu Cora.
Der Mann und die Frau bückten sich beide, sodass ihre Gesichter auf einer Höhe mit Coras waren. Cora konnte nicht husten oder so tun, als wäre sie zurückgeblieben, weil eine der Agentinnen in der Nähe stand und sie beobachtete. Der Mann fragte sie nach ihrem Namen, und sie sagte ihm, wie sie hieß. Als er sie nach ihrem Alter fragte, sagte sie, dass sie es nicht wüsste, aber gerade ihren ersten Zahn verloren hätte. Beide lachten, als hätte Cora etwas furchtbar Lustiges gesagt, als wäre sie eines der Kinder, die das Jesuslied sangen und sich wirklich anstrengten, niedlich zu sein. Sie starrte die beiden an, aber sie lächelten immer noch. Der Mann sah die Frau an. Die Frau nickte.
»Wir würden uns freuen, wenn du mit uns kommst und bei uns lebst«, sagte der Mann. »Wir würden uns freuen, wenn du unser kleines Mädchen sein könntest.«
»Wir haben schon ein Zimmer eingerichtet. Dein Zimmer.« Die Frau lächelte und entblößte große, vorstehende Zähne. »Mit einem Fenster und einem Bett. Und einer kleinen Kommode.«
Cora sah die beiden mit undurchdringlicher Miene an.
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