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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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Sie konnten nicht ihre Eltern sein. Sie sahen ihr überhaupt nicht ähnlich. Und sie hatten nichts von einem Pony gesagt. Außerdem war das hier ein merkwürdiger Ort. Die Hauptstraße war trocken und staubig. Und windig. Auf dem Weg vom Bahnhof hatte der Wind sie beinahe umgeworfen.
    Dann lagen die Hände der Agentin auf ihren Schultern. »Sie ist schüchtern. Und ganz sicher müde. Die Kinder sind seit Tagen unterwegs.«
    »Wahrscheinlich hat sie Hunger«, sagte die Frau. Sie klang bestürzt.
    Die Agentin, die immer noch hinter Cora stand, gab ihr einen kleinen Schubs. »Los, geh schon«, sagte sie energisch. »Und sei dankbar, ja? Wie es aussieht, hast du wirklich Glück.«

5
    Beim Schrillen der Pfeife schrak sie auf und blinzelte. Ihr Hut saß schief, und Louise war nicht auf ihrem Platz. Cora schaute sich im Abteil um. Das dicke Baby auf der anderen Seite saß still, aber wach auf dem Schoß seiner Mutter und starrte sie mit ernster Miene an. Viele Plätze waren frei. Sie rückte ihren Hut zurecht und rieb sich den Nacken. Kein Grund zur Unruhe. Vielleicht war Louise nur in den Waschraum gegangen und so rücksichtsvoll gewesen, Cora nicht zu wecken. Bestimmt kam sie gleich zurück.
    Der Zug rollte an einem Maisfeld vorbei. Die Stängel waren, jetzt im Sommer, hoch, und die goldenen Spitzen lugten aus den grünen Blättern und reckten sich der Sonne entgegen. Cora suchte auf ihrem Sitz nach ihrem Buch und runzelte die Stirn, als sie es auf dem Boden entdeckte. Sie konnte sich nicht danach bücken, nicht in ihrem Korsett. Sie versuchte, es mit beiden Füßen zu packen, aber ihre Schuhsohlen waren zu steif, und alles, was sie erreichte, war, das Buch unter Louises Sitz zu befördern. Sie betrachtete Louises leeren Platz. Der Schopenhauer lag aufgeschlagen auf den Zeitschriften. Cora wandte den Kopf und spähte den Gang hinauf und hinunter. Da von Louise weit und breit nichts zu sehen war, beugte sie sich so weit es ging nach vorn und griff nach dem kleinen braunen Buch. Wieder überprüfte sie den Mittelgang und blätterte in den Seiten, bis sie auf eine Stelle stieß, die das Mädchen mit blauer Tinte unterstrichen hatte.
    Besser wäre, wenn es gar nichts gäbe. Da es auf der Erde mehr Leid als Freude gibt, ist jede Befriedigung nur vorübergehend. Sie schafft neues Streben und neues Leid, und die Qual des verschlungenen Tiers ist immer weit größer als die Freude des Verschlingenden.
    An den Rändern waren Kritzeleien in blauer Tinte. Dreidimensionale Pfeile. Weit aufgerissene Augen. Verschlungene Ranken mit Blättern. Um einen anderen Absatz waren Sterne gemalt.
    Wir werden zunehmend gleichgültig gegen das, was in den Köpfen anderer vorgeht, je mehr wir über die oberflächliche Natur ihrer Gedanken, die Enge ihrer Ansichten und die Zahl ihrer Irrtümer erfahren. Wer zu viel Wert auf die Meinung der anderen gibt, erweist ihnen zu viel Ehre.
    Cora klappte stirnrunzelnd das Buch zu und legte es, so wie sie es gefunden hatte, auf die Zeitschriften zurück.
    Da es kurz nach zwölf war, war in den Speisewagen viel Betrieb, und die Kellner schoben sich, die Tabletts hoch über ihren Köpfen balancierend, geschickt aneinander vorbei. Fast jeder Tisch war besetzt. Aber Louise, die keinen Hut trug, war leicht zu finden. Sie saß Cora zugewandt, die überkreuzten Beine leicht zum Gang geneigt, und wippte mit einem hochhackigen Schuh. Der Mann, der angeboten hatte, das Fenster für sie zu öffnen, saß neben ihr und rauchte eine Zigarre. Auf einer Ecke des Tisches stand ein elektrischer Ventilator und blies den Rauch über die Schulter des Mannes zum Fenster hinaus. Der freie Arm des Mannes ruhte auf der Rückenlehne, nicht weit von Louises Schulter.
    Ein Schwarzer in makellos weißer Jacke beugte sich zu Cora vor. »Ma’am? Ein Tisch für eine Person?«
    »Nein, danke. Ich –«
    »Cora!« Louise schwenkte eine weiße Leinenserviette. »Cora! Hier bin ich!«
    Sie konnte Cora nichts vormachen, auch wenn sie so tat, als wäre alles in bester Ordnung. Selbst wenn Myra ihre Tochter in einer Scheune großgezogen hätte, musste ein Mädchen ihres Alters wissen, wie unschicklich es war, ungeniert mit einem Mann, den sie nicht kannte, an einem Tisch zu sitzen.
    »Setzen Sie sich zu uns!« Wieder schwenkte Louise die Serviette. »Helfen Sie mir! Ich kann das unmöglich alles aufessen.«
    Der Zug legte sich in eine Kurve, und Cora umfasste einen Haltegriff. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nicht aus dem

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