Das Schmetterlingsmädchen - Roman
Männer ihre Löhne vertrinken und dabei ihre Frauen und Kinder vergessen.« Jetzt heftete sie ihren Blick auf den älteren Mann. »Ich nehme an, es gibt in New York einige Frauen, die froh sind, so leben zu können, wie es die Frauen in Kansas schon seit Jahren tun.«
Louise verzog das Gesicht. »Es sei denn, sie trinken selbst gern ein Gläschen.« Der junge Mann schüttelte den Kopf und lachte, schaffte es aber auch diesmal nicht, ihren Blick auf sich zu lenken.
Der Onkel sah Cora nachdenklich an und sog an seiner Zigarre. »Verzeihung«, sagte er höflich, »aber wie Sie sagen, sind Sie in Kansas aufgewachsen, in dem Alkohol seit vierzig Jahren verboten ist. Auch Sie sehen nicht alt genug aus, um etwas anderes als die Prohibition zu kennen.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht beweisen die Probleme, die Sie erwähnen, lediglich, dass auch Gesetze nicht verhindern können, dass die Leute Alkohol trinken.«
Louise lächelte und stupste ihn mit dem Ellbogen an, als hätte ihr Team gerade einen Punkt gemacht.
»Nein«, erwiderte Cora ungerührt. »Keineswegs. Ich kenne einfach ältere Frauen, die sich noch an die schlechten Zeiten erinnern. Als ich ein Mädchen war, habe ich Carrie Nation sprechen gehört – und Sie vermutlich auch, wenn Sie in Kansas aufgewachsen sind. Wenn ich mich recht entsinne, hatte sie einiges darüber zu sagen, wie sich ihr Ehemann zu Tode getrunken hat. Und soweit ich weiß, stand sie mit dieser Erfahrung nicht allein da.«
Der ältere Mann hob sein Glas Wasser. »Und dafür werden wir jetzt alle bestraft.«
»So kann man es natürlich auch sehen.« Cora legte ihr Besteck auf den Teller und winkte dem Kellner. Sie hatte alles gegessen, was ihr Korsett zuließ, genug, um bis zum Dinner durchzuhalten. »Wir müssen uns wohl darauf einigen, dass wir uns nicht einig sind.«
»Darauf trinke ich!«, sagte der Mann. Gleich darauf schlug er sich an die Stirn. »Mist! Das darf ich ja nicht.«
Louise stieß mit ihm an. »Nur heimlich!«
Cora legte ihre Serviette auf den Tisch. »Louise, ich denke, wir sind beide fertig. Gentlemen, es war nett, Sie kennenzulernen. Wir sollten uns jetzt lieber wieder auf unsere Plätze setzen.« Sie stand auf und zückte ihr Portemonnaie.
»Bitte!« Der ältere Mann machte eine abwehrende Handbewegung. »Denken Sie bitte nicht daran, zu zahlen. Wir haben die junge Dame gebeten, sich zu uns zu setzen. Und auch Ihre Gesellschaft war uns ein Vergnügen.«
»Vielen Dank, aber ich bestehe darauf.« Sie legte einen Dollar auf den Tisch und fixierte den Mann mit einem Blick, der jeden weiteren Einwand im Keim erstickte. Sie wünschte, er würde aufhören, sie auf diese gewisse Art anzulächeln. Sie waren alte Feinde – der Mann, der trank, und die Frau, die wählen durfte. Sie brauchte seine Wertschätzung nicht.
»Danke für den Versuch«, sagte Louise zu den beiden. Als sie aufstand, sah sie den jungen Mann an und lächelte ihn und seinen Onkel an. Cora wartete, bis Louise vor ihr war und auf ihren hohen Absätzen forschen Schrittes den Gang hinuntereilte, ehe sie sich umdrehte, um sich kurz von den Männern zu verabschieden.
Sie wollte Louise die Leviten lesen, sowie sie wieder auf ihren Plätzen saßen. Aber zuerst musste sie das Mädchen bitten, Zeit der Unschuld aufzuheben, das hoffentlich immer noch auf dem Boden lag.
»Ich habe Rückenschmerzen«, erklärte sie. Sie standen beide noch immer im Mittelgang.
Louise musterte sie skeptisch. »Und Ihr Korsett ist auch keine Hilfe, wette ich.« Zum Glück senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. »Leugnen ist zwecklos. Ich habe mein ganzes Leben lang Sachen für Mutter aufgehoben.«
Cora schaute zu, wie Louise sich bückte und unter den Sitz griff. Wie mühelos sie sich bewegte, wie leicht! Cora wusste, dass heutzutage viele Mädchen kein Korsett trugen. Sie trugen einfach Büstenhalter, die ihre Brüste eher platt drückten – anscheinend war es in Mode, zu versuchen, wie ein Kind, ein junges Mädchen oder sogar ein Junge auszusehen. Cora konnte nicht erkennen, ob Louises Busen eingeschnürt oder ob sie von Natur aus flachbrüstig war. Aber alles an ihr wirkte mädchenhaft – ihre Frisur, ihre großen Augen, ihre zierliche Gestalt. Doch dazu hatte sie einen klugen Blick und volle Lippen.
Louise sprang mit einem triumphierenden Lächeln auf und reichte ihr das Buch.
»Danke.« Auch Cora senkte ihre Stimme. »Und jetzt muss ich noch ein Wort mit dir reden. Ich denke, du weißt, worum es geht.«
Louise
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