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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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die Tischplatten mit ausgekochten Lappen abwischen. Sie schaute aus dem Fenster. Das Gras im Garten war sommerwelk, und wo der große Baum gestanden hatte, war nur noch ein Stumpf.
    Der Mann kehrte zurück und stellte ein Glas Wasser vor sie auf den Tisch.
    »Danke«, sagte sie und hob den Blick.
    Er lächelte, ging aber nicht. Sie starrte auf ihre Hände. Sie hatte Floyd Smithers’ Rat beherzigt und ihren Ehering in der Wohnung gelassen.
    »Es geht mir gut, wirklich«, sagte sie. Sie wartete, bis er zur Leiter ging, bevor sie das Glas mit beiden Händen an ihre Lippen hielt. Sowie das kalte Wasser ihre Lippen berührte, schien ihr Körper aufzuleben, und sie trank es Schluck für Schluck aus, mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf.
    Der Mann, der jetzt auf der Leiter stand, fing an zu pfeifen.
    Sie wandte sich ab und stellte das leere Glas auf den Tisch. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber sie hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Sie öffnete ihre Handtasche und nahm Zeit der Unschuld heraus, eher als Schutz vor einer Unterhaltung als aus dem Wunsch heraus, sich tatsächlich der Lektüre zu widmen. Sie konnte im Moment nicht lesen. Sie konnte nur auf die Seiten starren und versuchen, ruhiger zu werden.
    Der Mann hörte auf zu pfeifen. Ohne zu überlegen, blickte sie auf. Er zeigte mit einer Kopfbewegung auf ihr Buch, als wollte er eine Bemerkung dazu machen, aber bevor er etwas sagen konnte, kehrte sie ihm den Rücken zu und starrte auf die Seiten, auf die verschwommenen, ungelesenen Buchstaben. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war schon Viertel nach eins. Ihre Finger kribbelten, und sie spürte ein Prickeln unter der Haut, als ahnte sogar ihr Blut, wo sie war.
    Schwester Delores. Cora erkannte sie sofort – die hohen Wangenknochen, die blauen Augen – und unterdrückte mit Mühe ein Keuchen. Natürlich. Die Nonnen, die alt gewesen waren, als sie selbst noch ein Kind war, mussten inzwischen alle tot sein. Aber Schwester Delores war mittleren Alters, mit tiefen Furchen um ihre blassen Augenbrauen und vor allem um ihren Mund. Selbst in ihrer strengen schwarzen Tracht sah sie weniger furchteinflößend aus als in Coras Erinnerung. Sie wirkte kleiner, genau wie die Tische und der Speisesaal. Cora fragte sich, ob sie immer noch den Rohrstock bei sich hatte.
    »Sie müssen entschuldigen«, sagte Schwester Delores und beugte sich ein wenig vor. Ihre Stimme war dieselbe, leise und eindringlich. »Ich dachte immer, ich könnte mich an das Gesicht jedes Mädchens erinnern, das innerhalb dieser Mauern gelebt hat.« Sie starrte Cora an und schüttelte den Kopf.
    Sie waren in einem Büro, hinter einer der zwei Türen, die auf den Flur gingen. Direkt über dem Kopf der Nonne hing ein gerahmtes Bild von Jesus in Getsemani und daneben eine gerahmte Fotografie des neuen Papstes. Die Holzplatte des Schreibtisches war frei von jeglichem Krimskrams; nur eine Schreibmaschine und ein Stapel Papier, der mit einem silbernen Kreuz beschwert wurde, standen darauf. Das einzige Fenster wurde von einer langen Spitzengardine verdunkelt, die leicht in der warmen Sommerbrise flatterte und deren Schatten ein durchbrochenes Muster auf den Dielenboden warf.
    »Ich erwarte nicht, dass Sie sich an mich erinnern«, sagte Cora. In Wirklichkeit war sie froh, dass Schwester Delores keine Erinnerung an sie als Kind hatte. Sie hatte sich als Cora Kaufmann aus McPherson, Kansas, vorgestellt und nicht als Mrs. Alan Carlisle aus Wichita, die die Nonnen schon dreimal mit Briefen belästigt hatte und die bereits mehrmals ein Nein als Antwort bekommen hatte.
    »Sie leben jetzt in Kansas, sagen Sie.« Die blauen Augen hefteten sich auf Coras Gesicht. »Dann waren Sie wohl in einem der Züge?«
    Cora nickte. Über ihnen hörte sie Wasser durch Rohre laufen und das Trappeln vieler Füße. Die Mädchen fingen mit der Wäsche an, indem sie die schmutzige Kleidung und Bettwäsche aus den Beuteln nahmen. All die Jahre, in denen sie bei den Kaufmanns gelebt hatte und zur Schule gegangen war und dann Alan geheiratet und die Jungs großgezogen hatte, all die Jahre war hier nach wie vor jeden Tag zur selben Zeit die Wäsche eingetroffen, um von verschiedenen kleinen Händen sauber geschrubbt und aufgehängt zu werden.
    »Sind Sie gut untergebracht worden?« Die Nonne wirkte angespannt, als wollte sie sich auf einen Schlag vorbereiten.
    »Oh ja, Schwester. Es waren wundervolle Menschen, die mich aufgenommen haben. Besser hätte ich es nicht

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