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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Moriarty
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sehen konnte. Als sie Coras schockierten Blick bemerkte, interpretierte sie ihn falsch, lächelte und rief ihr fröhlich etwas auf Italienisch zu.
    Cora wurde schwindelig. Es lag an der Hitze, vielleicht auch an den Gerüchen, die von Geschäft zu Geschäft stark variierten. Frisch gebackenes Brot. Katzenpisse. Geschmolzener Käse. Waschmittel. Gebratenes Fleisch. Sie ging in ein Café und merkte zu spät, dass sämtliche Gäste Männer waren. Als sie hinauseilte, riefen sie ihr etwas in einer fremden Sprache nach, im besten Fall etwas Respektloses, vermutete sie.
    Wieder zückte sie den Stadtplan. Sie fühlte sich immer noch nicht bereit, noch lange nicht. Aber ihr war heiß, und sie war müde.
    Drei kreischende Mädchen in schmuddeligen Kleidern rannten von hinten an ihr vorbei. Das kleinste streifte mit seiner mageren Schulter Coras Rock. Das Mädchen lief mit wippendem dunklem Zopf weiter, rief aber »Entschuldigung, Ma’am« und drehte sich kurz um, um ihr ein strahlendes, zahnlückiges Lächeln zu schenken.
    Fast wäre sie an dem Gebäude vorbeigegangen. Ohne die Adresse hätte sie es nicht erkannt – sie hatte es größer in Erinnerung. Es war nur vier Stockwerke hoch, auf jeder Etage fünf Fenster und ganz oben die fensterlose Wand. Ein angrenzendes Grundstück, an das sie sich nicht erinnerte, war gepflastert und eingezäunt worden, und hinter einem breiten Tor zur Straße befand sich ein zweistöckiges Nebengebäude aus Holz. Aber der braune Ziegelstein des Hauptgebäudes war genauso, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und neben der Tür hing das kleine vergoldete Schild, auf dem ein Kreuz und in schwarzen Buchstaben The New York Home for Friendless Girls eingraviert war. Cora starrte es grimmig an. Nach all den Jahren, also wirklich! Sie hätten einen besseren Namen finden können.
    Auf der Straße roch es süß und nach Butter, wie Kekse, die direkt aus dem Backofen kamen. Falls sie als hungriges Kind solche Leckereien gerochen hätte, würde sie sich bestimmt daran erinnern. Bekamen die Waisenkinder heutzutage Kekse? Oder wurden sie von den Mädchen für den Verkauf gebacken? Andere Veränderungen waren deutlich zu sehen. Innerhalb der Umzäunung befanden sich primitive Schaukeln mit Sitzen, die aus den Deckeln von Holzkisten angefertigt waren. Und es gab ein Kletterseil mit einem dicken Knoten am unteren Ende. Aber manche Dinge waren unverändert. Neben der Tür lag ein Stapel mit prall gefüllten Leinensäcken. Abgegebene Schmutzwäsche. Cora blickte zum Dach hinauf.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Sie drehte sich um. Eine junge Nonne mit der Andeutung eines dunklen Oberlippenbartes eilte die Stufen hinauf, gefolgt von einem Mann im Overall, der eine Holzkiste trug.
    »Oh. Ja«, sagte Cora und stieg ebenfalls die Treppe hinauf. »Ich … ich würde gern mit jemandem sprechen.«
    »In welcher Angelegenheit?« Die Nonne schaute sie freundlich an und nahm die eine Seite der Kiste, während der Mann, der immer noch den schwereren Teil trug, einen Schlüsselbund aus der Tasche seines Overalls zog.
    Cora zögerte. Aber die Nonne schien es eilig zu haben.
    »Ich habe einmal hier gelebt«, platzte sie heraus. »Als Kind.«
    Der Mann mit der Nickelbrille schaute Cora an, als er den Schlüssel im Schloss drehte. Er nickte der Nonne zu, nahm die Kiste und trug sie hinein.
    »Verstehe«, sagte die Nonne und rieb eine Hand an der anderen. So eilig sie es auch hatte, ihr Gesichtsausdruck wirkte betont neutral; Cora hätte unmöglich sagen können, ob sie bestürzt war oder ob jeden Tag erwachsene Waisen zu Besuch kamen. »Leider ist gerade Messe. Bis auf eine von uns sind wir alle oben. Sie könnten morgen noch einmal kommen, entweder vor halb eins oder nach eins.«
    Cora gab sich Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Nach all den Jahren war sie immer noch darauf konditioniert, das Wort einer Nonne widerspruchslos zu akzeptieren, nicht unfreundlich zu werden oder undankbar zu wirken, nicht einmal durch ihren Gesichtsausdruck. Aber das war lächerlich. Sie war kein Kind mehr. Sie war erwachsen. Eine verheiratete Frau. Sie hatte nichts zu befürchten.
    »Könnte ich nicht drinnen warten?« Cora lächelte liebenswürdig, um zu überspielen, wie sehr ihre Bitte sie selbst überraschte. »Ich weiß nicht, ob sich noch einmal eine Gelegenheit bietet, Sie zu besuchen«, fügte sie hinzu. »Und ich habe einen sehr weiten Weg hinter mir.«
    Die Nonne nickte, und Cora folgte ihr die Stufen hinauf und durch die

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