Das Schmetterlingsmädchen - Roman
wiederholt hustete, ihre Aufmerksamkeit schenkte. Sie versuchte, niemanden direkt anzusehen. Wenn daheim in Wichita eine Straßenbahn so überfüllt war, starrte sie immer aus dem Fenster, nicht unbedingt wegen der Aussicht, sondern aus Höflichkeit. Das machten die Leute hier auch, obwohl es außer den Tunnelwänden nichts zu sehen gab.
Die Stopps waren kurz und häufig. Cora trat beiseite, um Leute vorbeizulassen, und neigte dabei den Kopf, um ihre Hutkrempe zu schützen. Ihr war bewusst, dass jede Station sie näher an ihr eigenes Ziel brachte. Trotz der stickigen Luft wünschte sie, die Fahrt könnte endlos weitergehen, bis sie tatsächlich für das, was vor ihr lag, bereit war. Es fiel ihr immer noch schwer, sich das New York Home for Friendless Girls als real existierenden Ort vorzustellen, ein brauner Ziegelbau, der an einer Straße stand und nicht nur durch ihren Kopf geisterte. Was würde sie empfinden, wenn sie das Gebäude vor sich sah, ebendiese Ziegel mit ihren Händen berührte?
Als sie die Stufen von der U-Bahn hinauf ins helle Sonnenlicht stieg, trat sie zur Seite, um die anderen Fahrgäste vorbeigehen zu lassen, und studierte einen Moment lang den Stadtplan. Es war nicht mehr weit. Laut Floyd Smithers’ Plan befand sich das Waisenhaus gleich um die Ecke. Sie tupfte sich den Schweiß von der Stirn. An den Spitzen ihrer Handschuhe blieben feuchte Flecken zurück. Bald, viel zu bald würde sie vor der Tür des Heimes stehen. Sie steckte den Plan ein. Die Straßen waren der Reihe nach durchnummeriert. Wenn sie einfach einen Spaziergang machte, um ihre Nerven zu beruhigen, konnte sie sich kaum verlaufen. Sie spannte ihren Sonnenschirm auf und presste mit ihrer freien Hand ihre Tasche an die Brust.
Floyd hatte recht, was die Gegend anging – Iren, oder zumindest ihre Namen, waren allgegenwärtig. McCormicks Schuhreparatur. Kellys Auto- und Reifenhandlung. Sullivans Imbiss. Paddys war schlicht und einfach Paddys; das Wort Saloon war dünn übermalt worden. Sie kam an einer katholischen Kirche vorbei. Viele Leute hier sahen aus und klangen, als wären sie hier geboren, obwohl sich eine alte Frau hoch oben aus einem Fenster lehnte und mit breitem irischen Akzent brüllte: »Daniel Mulligan O’Brien! Setz sofort deinen Arsch in Bewegung!« (Niemand außer Cora, nicht einmal der Junge, der gemeint war, drehte auch nur den Kopf.) Hier und da hörte sie andere Sprachen. Spanisch. Französisch. In einer schmalen Nebengasse, in der reger Verkehr von Wagen und Lastern herrschte, unterhielten sich einige Mädchen mit Zöpfen, die Ball spielten, in einer Sprache, die Cora nicht erkannte. Über ihren Köpfen spannten sich quer über die Straße von Fenster zu Fenster Dutzende von Wäscheleinen, an denen Unterwäsche und Oberbekleidung hing, hauptsächlich Kindersachen – kleine Jacken und kleine Hemden, kurze Hosen mit Flicken auf dem Hinterteil und Kleidchen mit ausgefranstem Saum.
Je weiter sie ging, desto mehr Kinder sah sie. Und auf einmal waren sie überall. In einer Straße spielten vor jedem Treppenaufgang mindestens fünf bis sechs Kinder Ball oder balancierten auf dem Geländer. Einige waren mit ihren Müttern unterwegs oder mit Männern, die Hafenarbeitermützen trugen. Andere liefen in Rudeln über den Bürgersteig, entweder alles Mädchen oder alles Jungen. Viele sahen aus, als wären sie gerade mit ihren Kleidern geschwommen. Ihre Haare klebten nass an ihren Köpfen und tropften, aber besonders sauber sah trotzdem keines der Kinder aus. Sie schubsten sich und lachten, und die, die barfuß waren, hüpften flink über die heißen Bürgersteige. Cora sah, wie ein blondes Mädchen von ungefähr acht Jahren in einen Mülleimer langte, einen halb gegessenen Apfel herausholte und genüsslich hineinbiss. Als ihre Freundinnen sich um sie scharten, gab sie den Apfel weiter, damit jede von ihnen einen Bissen nehmen konnte.
Sie ging an einer schwangeren Frau mit zerdrücktem Hut und einem blauen Fleck auf der Wange vorbei, die ein Kind auf der Hüfte trug und ein weiteres an der Hand hielt. Als ihr auffiel, dass Cora sie anschaute, starrte sie sie finster an.
Und Babys. So viele Babys. Sie schrien aus offenen Fenstern und in den Armen anderer Kinder. Sie wurden in wackeligen Wagen geschoben oder schlummerten in Tragetüchern, die sich ihre Mütter um den Hals geschlungen hatten. Eine Frau in einem langen schwarzen Kleid stillte ihr Kind auf einer Bank vor einem Billardsalon, sodass jeder ihre pralle Brust
Weitere Kostenlose Bücher