Das Schmetterlingsmädchen - Roman
Tür. Die Diele war klein und weiß gestrichen, mit einer Treppe zur Rechten und einem langen Gang direkt geradeaus, der zu einer hellen Küche führte. Cora konnte von dort, wo sie stand, eine Ecke des Herdes sehen. Der Geruch nach Keksen war verflogen; jetzt roch sie nur noch Bleichmittel.
»Danke, Joseph«, rief die Nonne, obwohl der Mann verschwunden war. Sie schloss die Eingangstür und drehte den Schlüssel im Schloss. »Tut mir leid, ich darf mich nicht verspäten.« Sie eilte bereits die Treppe hinauf und raffte mit beiden Händen den Saum ihrer Ordenstracht. »Gehen Sie einfach den Gang hinunter und durch die Küche in den Speisesaal. Dort dürfen Sie sich gern hinsetzen und warten.«
Cora stand in der Diele und lauschte den gedämpften Klängen eines Klavieres, das irgendwo oben zu hören war. Die Holzkiste war neben der Tür abgestellt worden. Sie war voller Mädchenschuhe, wie sie jetzt feststellte, abgetragen und verschrammt und paarweise mit Gummibändern zusammengehalten. Sie sah zur Vordertür, auf den Türknauf auf einer ovalen Messingplatte mit kleinen perlförmigen Verzierungen am Rand. Nichts daran wirkte vertraut. Aber wie sollte es auch? Schließlich hatte sie nicht gerade oft vor der Haustür gestanden, um nach Belieben zu kommen und zu gehen.
Als sie den Flur zur Küche hinunterging, wurde der Geruch nach Bleiche intensiver. Sie kam an zwei Türen vorbei, beide geschlossen und in gleichem Abstand voneinander. Noch immer hörte sie das Klavierspiel und jetzt auch die Stimmen von Mädchen. Sie sangen Sing, my tongue, the Virgin’s trophies/Who for us her Maker bore. Cora blieb stehen und starrte zu der niedrigen Decke empor. Sie kannte das Lied, erinnerte sich daran. Ohne nachzudenken, bewegte sie ihre Lippen zu den Worten. For the curse of old inflicted/Peace and blessing to restore.
Die Küche wirkte nicht vertraut. Sowohl die Spüle als auch der grüne Emailleherd sahen modern aus, neuer. Auf einem Hocker neben dem Kühlschrank standen drei Behälter mit Haferflocken. Fast musste sie lachen. Nach all den Jahren wurde immer noch Haferbrei aufgetischt. Vielleicht gaben die Nonnen jetzt Zucker oder Sirup dazu. Vielleicht servierten sie es auch nicht zweimal am Tag und noch dazu täglich. Wie auch immer, als sie noch hier lebte, hatte ihr der Haferbrei nichts ausgemacht. Sie war für alles dankbar gewesen, was ihren Hunger stillte, sei es auch nur für ein paar Stunden. Und sie hatte nichts Besseres gekannt – das machte es einfacher. Aber schon nach wenigen Tagen bei den Kaufmanns, nach Rührei und Kartoffeln und Brathuhn und Pfirsichen, hatte sie beschlossen, nie wieder Haferbrei zu essen. Es war egal, ob Mutter Kaufmann braunen Zucker darüberstreute oder Butter oder Sirup dazugab. Es war die Konsistenz, an die Cora sich erinnerte. Seit damals hatte sie nie wieder eine Schale angerührt.
Durch die offene Tür rechts von ihr sah sie die Enden von zwei geradkantigen Tischen. Und Bänke und Licht, das durch vergitterte quadratische Fenster fiel. Sie betrat den Speisesaal. Der Raum war kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte, und die vier Tische, jeweils zwei nebeneinander, waren nicht so lang wie die, an denen sie all die stillen Mahlzeiten mit den anderen Mädchen und den Nonnen verzehrt hatte. Alles schien größer gewesen zu sein, als sie klein war. Sie hatten in Schichten essen müssen, fiel ihr ein, die jüngeren Mädchen vor den älteren.
Sie ließ sich auf eine Bank sinken und legte ihre behandschuhten Hände behutsam auf den Tisch.
»Hallo.«
Sie wandte den Kopf. Der Mann im Overall war durch eine Tür auf der anderen Seite des Saales eingetreten. Er trug eine Klappleiter in die Mitte des Raumes, genau unter einen kleinen Kreis blanker Drähte. Bevor er die Leiter aufstellte, hielt er inne. Seine Brillengläser funkelten im Sonnenlicht.
»Alles in Ordnung?«
Er hatte einen Akzent, den sie nicht bestimmen konnte. Sein Gesicht war kantig, sein Haar blond und dünn.
»Ja, danke.« Sie räusperte sich, weil ihre Kehle trocken war. »Ich warte hier bloß.«
»Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?«
»Oh! Ja, ein Glas Wasser wäre schön. Danke.«
Sie hörte das Aufklappen der Leiter, dann seine Schritte Richtung Küche und das Klirren der Schlüssel in seiner Hosentasche. Sie zog ihre Handschuhe aus. Als sie hörte, wie er den Wasserhahn aufdrehte, legte sie ihre Hände auf den Tisch und zog mit den Fingerspitzen die Rillen im Holz nach. Sie mussten damals nach jeder Mahlzeit
Weitere Kostenlose Bücher