Das Schmetterlingsmädchen - Roman
den Blick immer noch unverwandt auf Cora gerichtet. »Das wäre nicht Ihre Schuld. Niemand behauptet das. Das ist der Grund, warum für Sie gesorgt wurde und warum man Sie in den Zug gesetzt hat. Denken Sie an die Mühe, die man sich gemacht hat, an die Unkosten, um euch Mädchen zu einem anständigen Zuhause zu verhelfen, damit ihr ein anständiges Leben führen könnt. Und? Sind Sie eine Brieftaube, die ins Elend zurückkehren will? Wollen Sie all die Zeit und das Geld, das für Sie ausgegeben wurde, ungeschehen machen, indem Sie hierherkommen, um genau das Elend zu finden, aus dem wir Sie befreit haben?«
Cora schluckte. Sie sollte sich nicht einschüchtern lassen, nicht von dem Zorn im Blick der Nonne und auch nicht von ihren gezielten Fragen.
Sie war jetzt erwachsen. Eine verheiratete Frau. Sie konnte widersprechen.
»Aber ein paar von den Mädchen hatten lediglich kranke Eltern«, sagte sie mit fester Stimme. »Die Mutter eines Mädchens lag im Krankenhaus, soweit ich mich erinnere. Das ist kein Elend. Wir reden hier von Krankheit. Was, wenn sie wieder gesund geworden ist?«
»Das ist wenig wahrscheinlich. Und wissen Sie, warum sie im Krankenhaus war? Nein. Das tun Sie nicht. Was das Mädchen erzählt hat und was der Wahrheit entsprach, können zwei verschiedene Dinge gewesen sein. Wir haben den Kindern nach Möglichkeit erspart, etwas zu erfahren, das zu viel für sie gewesen wäre.«
»Aber ich bin kein Kind mehr«, sagte Cora. »Ich will nicht belogen werden.« Sie hielt dem Blick der Nonne stand. Sie wollte, dass sie verstand. Nichts würde zu viel für sie sein. Selbst wenn ihre Eltern verkommen oder verrückt oder Trinker oder tot waren, wollte sie wissen, wer sie waren. Und sie konnten nicht durch und durch schlecht sein. Sie sah ihre Eltern in ihren eigenen Söhnen, dessen war sie sich ganz sicher. Earle war ruhig und nachdenklich wie sein Vater, aber wo hatte Howard seine Courage her, seine Verwegenheit? Niemand in Alans Familie hatte dieses Grinsen. Und woher hatte Earle sein Talent fürs Zeichnen? Verkommenheit oder Elend waren ihr egal. Sie konnte sich vorstellen, dass es keine schöne Geschichte war. Aber sie wollte sie kennen. Unbedingt.
»Als ich hierherkam«, sagte sie ruhig, »war ich kein Baby mehr. Ich konnte schon laufen, und ich kannte meinen Namen. Das haben mir die älteren Mädchen erzählt. Ich war rundlich, haben sie gesagt. Man hatte mich zuvor gut versorgt. Ich erinnere mich an eine Frau, die mich im Arm hielt und liebevoll mit mir sprach. Und zwar in einer fremden Sprache, nicht auf Englisch.«
»Dann halten Sie daran fest.« Die Nonne zuckte die Achseln. »An dem Wissen, dass Sie geliebt worden sind. Belasten Sie sich nicht mit Details, die Ihre Erinnerungen nur zerstören würden. Und denken Sie an Ihre Adoptiveltern, von denen Sie mir gerade erzählt haben, dass sie das Beste waren, was Ihnen passieren konnte. Warum die Menschen verraten, die Sie wie ihr eigen Fleisch und Blut behandelt haben?«
Cora starrte mit verhangenem Blick auf die Spitzengardine. Eine kluge Taktik, sie mit der Erinnerung an die Kaufmanns zu beschämen. Aber nicht fair. War Mr. Kaufmann nicht persönlich mit ihr in McPherson auf den Friedhof gegangen, um ihr die Gräber der Kaufmann-Eltern und -Großeltern zu zeigen, die das Land besiedelt und ihm alles über die Arbeit auf einer Farm beigebracht hatten? Und hatte Mutter Kaufmann ihr nicht von ihrem Großvater erzählt, der ein so überzeugter Gegner der Sklaverei gewesen war, dass er mit seiner Familie von Massachusetts nach Kansas gezogen war? Schwester Delores wollte ihr einreden, dass Abstammung nichts bedeutete, obwohl das Leben der meisten Menschen davon bestimmt wurde, wer ihre Eltern und Großeltern waren. Myra war beileibe keine Traummutter, aber Louise war trotzdem zu einem Mädchen herangewachsen, das so selbstsicher war, so überzeugt davon, dass es diesen und keinen anderen Weg gehen musste.
Schwester Delores stand auf und lehnte sich leicht an den Schreibtisch. Cora begriff. Das Gespräch war beendet. Die Antwort war Nein und würde es für immer bleiben. Cora nickte und stand ebenfalls auf. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Nichts würde sich ändern, ob sie nun weinte oder lachte oder schrie oder auf Knien bettelte und flehte.
Cora brachte ein höfliches Danke zustande. Immerhin hatte sie es bis hierher geschafft. Sie sah in das Gesicht einer Person, die sie als Kind gekannt hatte, in dem ersten Zuhause, an das sie sich
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