Das Schmetterlingsmädchen - Roman
totzuschweigen.
»Ich bin verheiratet«, sagte sie. »Wir haben zwei Söhne, Zwillinge. Sie gehen im Herbst aufs College.«
Seine Augenbrauen senkten sich hinter dem Silberrand der Brille. Er wirkte nicht verärgert, aber sie erriet, was er dachte, welche Meinung er sich jetzt über sie bildete. Er konnte ihr nicht gut vorwerfen, dass sie ihm Informationen vorenthalten hatte. Sie war bloß freundlich gewesen, könnte sie sagen, und er hatte sie jetzt zum ersten Mal nach ihrem Leben gefragt. Aber sie hatte sehr wohl gemerkt, wie er sie ansah. Und jetzt hielt er sie für unaufrichtig und leichtfertig, eine verheiratete Frau, die keinen Ehering trug. Es war nicht fair. Er würde nie wissen, was dieser Nachmittag für sie bedeutete, diese wenigen Stunden, in denen sie nicht sie selbst sein musste, ihr Leben abstreifen konnte. Vielleicht konnte sie einfach die Wahrheit sagen. Sie hatte nie mit einem Menschen über Alan gesprochen, dieses Risiko durfte sie nicht eingehen, nicht einmal bei ihrer besten Freundin. Aber Joseph Schmidt hatte ein verständnisvolles Gesicht, und sie würde ihn nie wiedersehen. Er kannte weder ihren Nachnamen noch wusste er, aus welcher Stadt sie kam. Er konnte Alan nicht schaden. Und was für eine Erleichterung wäre es, die Worte laut auszusprechen, zu wissen, dass es jemanden gab, der die Wahrheit kannte und sie vielleicht verstand.
Und so kam es, dass sie ihm hier an dem kleinen Tisch mit dem surrenden Ventilator, der ihre Stimme dämpfte, ihr Leben erklärte, die ganze Wahrheit, in so schlichten Worten, wie es ihr möglich war. Die Italienerin saß hinter dem Tresen und las eine Zeitschrift, und Joseph hörte ruhig zu. Sie erzählte ihm von Howard und Earle und wie sehr sie die beiden liebte und dass nicht einmal sie etwas ahnten. Sie erzählte ihm, dass Alan und sie so redeten und sich so gaben, als wäre zwischen ihnen alles in bester Ordnung, als wüsste sie nicht, dass er sich nach den Bürostunden immer noch mit Raymond in seiner Kanzlei traf, als wüsste sie nicht, dass sie einander Geschenke machten – eine Uhr, in die R. W. und ein lateinischer Spruch, den sie nicht verstand, eingraviert war, Gedichtbände, in denen Zeilen unterstrichen waren. Ich bin, der Schmerzen leidet an sehnsüchtiger Liebe. 1
Joseph sagte nichts. Sie wusste nicht, was er dachte, aber sie redete weiter. Sie machte nicht einmal eine Pause, um einen Schluck zu trinken. Es war, als müsste sie reden, um atmen zu können. Sie erzählte ihm, wie jung sie gewesen war, als sie heiratete, wie allein, und sie achtete darauf, ihm begreiflich zu machen, dass Alan kein schlechter Mensch war, dass er sie sehr gut behandelte und seinen Söhnen ein liebevoller Vater war.
»Aber Ihnen kein Ehemann.«
Sie schüttelte den Kopf. Er verzog den Mund. Einen Moment lang glaubte sie, er würde ausspucken.
»Ich hatte einen Cousin, der auch so war, daheim in Deutschland«, sagte er. »Er war ein guter Mann. Ein guter Mensch.«
Cora runzelte die Stirn und wartete.
»Er wurde zusammengeschlagen. Wir wussten nicht, von wem, aber wir wussten, warum.« Er rieb sich die Wange. »Ihr Mann tut wahrscheinlich gut daran, es geheim zu halten.«
Sie legte ihr Gesicht in ihre Hände. Alan. Sie könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas zustieße. Sie fühlte sich genauso wie vorher. Nichts hatte sich verändert, indem sie sich Joseph Schmidt anvertraute.
»Was wollen Sie jetzt machen?«, fragte er.
Sie blickte auf. »Was meinen Sie?«
»Ihre Jungs sind erwachsen. Deshalb sind Sie doch bei ihm geblieben, haben Sie gesagt. Jetzt sind sie groß. Das stimmt doch?«
»Oh. Ich will keine Scheidung.«
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Wirklich nicht.« Sie versuchte es zu erklären. »Ich will mich nicht scheiden lassen.« Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte es nicht. Natürlich nicht.
»Warum nicht?«
Fast hätte sie gelacht. »Wie sollte ich es erklären? Was sollte ich den Leuten sagen? Meinen Söhnen?«
»Dass Sie glücklich sein wollen.«
»Das reicht nicht.«
»Nein?« Er beugte sich ein klein wenig vor. Sie wich zurück und schaute weg. Die Italienerin war nach draußen gegangen und kehrte den Bürgersteig.
»Was für eine Verschwendung«, sagte er.
Sie blickte auf. Sie sahen einander unverwandt an. Nur das Surren des Ventilators und das Rascheln des Besens waren zu hören. Sie konnte sich nicht bewegen oder wollte es nicht. Früher einmal hatte Alan sie voller Hoffnung und Güte angeschaut, aber nie auf diese Art, nie. Maßlose
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