Das Schneemädchen (German Edition)
Mabel unerwartet ein Kind vorgesetzt, oder zumindest die Aussicht darauf, und die Versuchung war groß, es als ein Geschenk anzunehmen, das ihr in den Schoß fiel. Vielleicht war es ja eine Schicksalsfügung. Alles hatte zu diesem einen Moment hingeführt, in dem ihr Wunsch endlich in Erfüllung gehen sollte.
Und sie täte doch recht daran, oder etwa nicht? Wie konnte ein Mädchen, das allein in der Wildnis lebte und selbst noch das reinste Kind war, für ein Neugeborenes sorgen, ihm Wärme und Sicherheit geben? Jack und sie hingegen waren trotz ihres vorgerückten Alters für diese Aufgabe wohl gerüstet. Sie hatten ein Heim und ihr Auskommen. Das Kind bekäme ein reinliches Bett und warmes Essen. Wenn die Zeit gekommen war, könnte es im Ort zur Schule gehen, an Buchstabierwettbewerben teilnehmen und ihnen niedliche, lustige Bildchen malen.
Ein Weilchen überließ sich Mabel diesem Tagtraum, dann verbannte sie ihn aus ihren Gedanken. Sosehr sie sich immer ein Kind gewünscht hatte, dieses stand ihr nicht zu. Es war Fainas Kind, und das sagte sie ihr schließlich auch.
Das Mädchen war auf dem Sprung, wie so oft zuvor. In den Wald. In die Wildnis. Fort. Mabel nahm sie bei der Hand und überredete sie liebevoll, sich neben sie zu setzen.
Du kannst nicht davonlaufen, Kind. Nicht davor. Es ist in dir.
Fainas Finger, dünn und bleich wie die Knochen eines Vogels, ruhten kühl in Mabels Hand, die so ganz anders war, gekrümmt, warm und schwer und voller Altersflecken.
Du wirst Hilfe haben, sagte Mabel sanft. Von uns allen. Von mir und Jack. Und von Esther. Sie ist die großherzigste Frau, die ich kenne, und sie wird sich überschlagen vor Hilfsbereitschaft. Und Garrett ist ja auch noch da.
Das Mädchen blickte zu Boden.
Du musst es ihm sagen, Faina. Nun, da du weißt, was vor sich geht, dass ihr zwei ein Kind erschaffen habt und es in dir heranwächst. Nun, da du das weißt, musst du es ihm sagen.
Er wird zornig werden.
Nein, das wird er nicht. Es wird ihn erschrecken, so wie dich auch, aber nicht zornig machen. Er liebt dich. Und ich habe Vertrauen in ihn, genauso wie in dich.
Faina ließ sie allein am Gartentisch sitzen, und Mabel schlang, trotz des Mantels fröstelnd, die Arme fest um sich. Wie einsam und trostlos es doch war, ein Kind aufgeben zu müssen. Faina, ein furchtsamer Schatten, verschwand im Wald, und Mabel zürnte über die Ungerechtigkeit, dass ihr das Kind, das sie sich so innig gewünscht hatte, verwehrt worden war, dieses junge Mädchen aber nun mit einem Kind gestraft wurde – eine Last, die sie womöglich nicht würde tragen können.
«Faina ist schwanger.»
Mabel wusste, dass es eine grässliche Angewohnheit war, mit schlechten Neuigkeiten bis zum Abendessen zu warten, aber sie und Jack hatten nur so wenige ruhige Momente miteinander. Diesmal jedoch fürchtete sie, unabsichtlich sein Leben gefährdet zu haben. Er verschluckte sich und hustete, bis er scharlachrot angelaufen war. Als es kein Ende nehmen wollte, stand sie auf und war schon drauf und dran, ihm kräftig auf den Rücken zu klopfen, damit sich löste, was ihm in der Kehle steckte, da hörte er endlich auf und räusperte sich. Mabel wartete, aber er sagte nichts.
«Sie ist schwanger, Jack.»
«Ich hab’s gehört.»
«Also …»
«Also?»
«Je nun, hast du nichts dazu zu sagen?»
«Was gibt’s da zu sagen? Dafür sind einzig und allein wir verantwortlich. Sie war das unschuldigste Kind, das die Welt je gesehen hat, und nur wir hätten sie schützen können. Aber wir haben es geschehen lassen.»
«Ach, Jack. Warum muss immer jemand Schuld haben?»
«Weil es so ist.»
«Nein. Manchmal passiert so etwas eben einfach. Das Leben verläuft nicht so, wie wir es planen oder erhoffen, aber deshalb müssen wir uns doch nicht so grämen, oder?»
Er aß weiter, doch offenbar war ihm der Appetit vergangen. Er schien an jedem Bissen zu würgen, gab schließlich auf und schob seinen Teller von sich.
«Es wird eine Hochzeit geben, nehme ich an?» Seine Miene war so angeekelt und verdrossen wie zuvor.
«Oh. Nun ja, davon war bisher noch nicht die Rede.»
«Es wird eine Hochzeit geben.» Ein harter, glasklarer Satz, dem nichts entgegenzusetzen war.
«Dann werden wir Garrett und Faina die Neuigkeit wohl mitteilen müssen.» Sie bedachte ihren Mann mit einem ironischen Lächeln. «Aber du hast recht. Anders geht es nicht.»
Erst als sie abends im Bett lag und Hochzeitspläne wälzte, kam ihr das Märchen in den Sinn. Sie
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