Das Schneemädchen (German Edition)
stand wieder auf, zündete eine Kerze an und ging auf bloßen Füßen zum Bücherregal. Die losen Blätter mit ihren Skizzen nahm sie heraus, bevor sie das Buch am Tisch aufschlug und bis zu der Farbtafel blätterte, die ihr im Bett vor Augen gestanden hatte. Sie zeigte eine Waldwiese mit üppigem grünem Laub und blühenden Blumen. In einem weißen, mit glitzernden Juwelen geschmückten Gewand, einen Kranz aus Wildblumen auf dem Kopf, stand das Schneemädchen neben einem hübschen jungen Mann vor der lieblichen Frühlingsfee, die die Trauung vornahm. Vom Himmel strahlte die Sonne herab.
Am liebsten hätte Mabel das Buch zugeschlagen, in den Ofen geworfen und zugesehen, wie die Flammen es verzehrten. Doch sie wendete Seite für Seite um, bis zu der Abbildung, vor der es ihr graute. Da war er wieder, der Kranz aus Wildblumen, er krönte nicht mehr den Kopf des Schneemädchens, sondern erblühte aus der Erde, wie um ein Grab zu bezeichnen. Mabel hielt sich den Mund zu, obwohl kein Laut aus ihm drang.
Jack rührte sich im Bett. Mabel raffte die Skizzen zusammen und steckte sie zurück in das Buch, das wieder ins Regal wanderte. Es sollte lange dauern, ehe sie abermals hineinschaute, und sie verlor niemals ein Wort darüber.
Kapitel 49
Jack hatte sich beruhigt. Zwar konnte er nichts ungeschehen machen, aber wenigstens wusste er nun, was zu tun war.
Es begann damit, dass Garrett ihn ein paar Tage nach Mabels Eröffnung aufsuchte. Er nahm an, der junge Mann wolle den Streit zu Ende ausfechten oder alle Verbindungen zu ihm kappen. Doch Garrett kam als bescheidener Bittsteller.
«Ich möchte um Fainas Hand anhalten. Ich weiß, wir sind noch sehr jung, und ich habe ihr nicht viel zu bieten, aber wir sind nun aneinander gebunden, und ich will das Beste daraus machen.»
Es traf Jack wie ein Schlag vor die Brust, und er musste sich auf den nächstbesten Küchenstuhl setzen. Garrett blieb abwartend stehen, trat von einem Bein aufs andere und räusperte sich.
Das hatte er nicht kommen sehen. Dass sie heiraten würden, das wohl schon; er war fest davon ausgegangen, dass Garrett sich nicht aus der Verantwortung stehlen würde. Aber nun kam der Junge zu ihm und bat ihn um Erlaubnis.
Es war nicht so vonstattengegangen, wie er es sich immer vorgestellt hatte, von einer Sekunde auf die andere mit einem Schwall Blut und einem durchdringenden Schrei; die Vaterschaft hatte sich im Lauf der Jahre nach und nach eingeschlichen, und er war blind dafür gewesen. Und nun, da er endlich begriff, dass eine Tochter durch sein Leben geschwirrt war, nun wurde von ihm verlangt, sie ziehen zu lassen.
«Ich werde gut für sie sorgen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.»
Jack widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Jungen; in seiner ernsten Miene las er, wovon Mabel ihn hatte überzeugen wollen – Garrett liebte das Mädchen von ganzem Herzen. Aber war das genug? Der Junge hatte sein Vertrauen missbraucht, ihn in seinem eigenen Haus belogen und sich die Umstände zunutze gemacht. Jack kam langsam vom Stuhl hoch, bis er Auge in Auge mit Garrett stand.
«Du wirst gut für sie sorgen», sagte er. Es war keine Zustimmung, sondern ein Befehl. Er streckte Garrett seine Rechte hin, und sie schüttelten sich die Hände wie zwei Männer, die einander eben erst kennengelernt hatten und noch nicht recht über den Weg trauten.
In derselben Nacht kam Jack der Einfall, und er weckte Mabel.
«Wir bauen ihnen ein Heim, hier auf unserem Gehöft.»
«Was? Jack, wie spät ist es denn?»
«Wir bauen ihnen ein Blockhaus unten am Fluss. So ist Garrett nicht allzu weit von der Farm weg, aber sie haben trotzdem ihr eigenes Zuhause.»
«Hmmm?» Mabel schlief noch halb, doch er redete weiter.
«Dann sind Faina und das Kind in deiner Nähe, und du kannst ihnen zur Hand gehen. Gleich nach der Pflanzzeit fangen wir an zu bauen. Vielleicht können wir da sogar die Hochzeit feiern.»
«Wo? Hochzeit?»
«Hier, Mabel. Sie werden hier leben, ganz nahe bei uns. Das ist ein guter Plan.»
«Hmmm?» Jack ließ sie weiterschlafen. Er war hochzufrieden.
Als Jack sah, wie das klare Morgenlicht schräg durchs Fenster fiel und Fainas Gesicht von der Seite beleuchtete, fragte er sich, ob Väter es wohl immer so schwer hatten. Die Kanne Tee war getrunken, die Brote mit Blaubeermarmelade waren verzehrt, und nun kam er um die Unterredung nicht mehr herum, die er seiner Frau versprochen hatte. Mabel war beim Abwasch und versuchte, dabei nicht das leiseste Geräusch zu
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