Das Schneemädchen (German Edition)
verursachen. Für gewöhnlich ließ sie das Geschirr morgens stehen, doch nun wurden jeder Teller und jede Gabel behutsam mit dem Lappen bearbeitet, abgespült und trockengerieben, als handle es sich um kostbarstes Porzellan, so angestrengt mühte sie sich, mitzuhören.
Jack räusperte sich und hoffte, dass es ihm gelänge, einen väterlichen Ton anzuschlagen.
Faina? Willst du das auch wirklich?
So macht man es doch, wenn man jemanden liebt, oder?
Dein Leben wird sich ändern. Du kannst dann nicht mehr wochenlang im Wald verschwinden. Du wirst Mutter und Ehefrau sein. Verstehst du, was das bedeutet?
Faina neigte den Kopf zur Seite, schien mit den Schultern zu zucken, doch dann sah sie Jack aus ihren blauen Augen an, und die Klarheit darin ergriff ihn mit Macht. Wie oft hatte er diesen Blick schon gesehen, diese verblüffende Mischung aus Jugend und Weisheit, Zerbrechlichkeit und Wildheit. So hatte sie geblickt, als sie Schnee über das Grab ihres Vaters streute und als sie mit blutverschmierten Händen vor Jacks und Mabels Tür stand. Darin lag Kummer und Liebe, Enttäuschung und Wissen, alles in einem.
Ich liebe ihn. Ihn und unser Kind. Das weiß ich.
Also willst du ihn heiraten?
Wir gehören zusammen.
Das hätte Jack eigentlich glücklich stimmen müssen. Doch sein Herz hüpfte nicht vor Freude, wie es sich für einen Vater gehörte – es war kummerschwer. Sie hatten in aller Heimlichkeit ein Kind der Liebe gezeugt, aber es lastete noch etwas anderes auf ihm. Faina würde nie mehr das kleine Mädchen sein, das er leichtfüßig durch den verschneiten Winterwald hatte huschen sehen und dessen Augen ihn an das Flusseis erinnerten. Sie war ein Zauberwesen in ihrer beider Leben gewesen, das mit den Jahreszeiten kam und ging und ihnen Schätze aus der Wildnis brachte. Dieses Kind gab es nicht mehr, und Jack trauerte darum, tief in seinem Inneren.
Kapitel 50
Die Erdbeerpflanzen begannen zu grünen und trieben die ersten rötlich violetten Ausläufer. Mabel bückte sich zu einer Pflanze nach der anderen hinab, knipste mit einer Gartenschere das Laub vom Vorjahr ab und warf die eingerollten, braunen Blätter beiseite. Am Ende des Hochbeets richtete sie sich auf, steckte die Schere in die Tasche ihrer Gartenschürze und schob sich den breitkrempigen Strohhut aus der Stirn.
Er war immer noch da. Der allerletzte Flecken Schnee im Hof, an der schattigen Nordseite des Hauses, wo die Verwehungen am höchsten gewesen waren. Als die Tage wärmer wurden, war er zusammengeschrumpft und nunmehr nur noch so groß und rund wie ein Wagenrad.
Mabel blinzelte zur Sonne empor, die schon jetzt weiß glühend am Himmel stand, und schob die Ärmel ihres Kleides hoch. Es würde eine Affenhitze werden, wie Garrett gern sagte. Er und Jack bepflanzten in Hemdsärmeln die Felder und würden ganz sicher mit einem ordentlichen Sonnenbrand heimkommen.
Mabel zog die Hutkrempe wieder herunter, um ihre Augen zu beschatten, nahm die Harke zur Hand, die an einem Zaunpfosten lehnte, und begann damit, im Erdbeerfeld herumzukratzen und zu scharren, lockerte die Erde und jätete Reihe um Reihe. Aus dem Augenwinkel sah sie das Sonnenlicht auf dem weißen Schnee gleißen. Er würde bald verschwunden sein.
Sie hatte oft über Adas Worte nachgesonnen, wonach man einer Geschichte ein neues Ende geben und sich für Freude entscheiden konnte anstelle von Leid. In den letzten Jahren war sie zu der Überzeugung gekommen, dass ihre Schwester nicht in allem recht hatte. Leiden, Tod und Verlust waren unausweichlich.
Doch was Ada über die Freude geschrieben hatte, war durch und durch wahr. Wenn sie in Fleisch und Blut vor einem stand mit ihrem geheimnisvollen Lächeln, musste man sie mit offenen Armen willkommen heißen, solange es ging.
Als Faina aus dem Fichtengehölz trat, ließen die Sonnenstrahlen ihre blonden Haare in einem eigenartigen Silbergold erglänzen, das Mabel selbst aus der Entfernung an Feen im Sternenlicht und an Leuchtkäfer erinnerte. Fainas Welpe, der sich zu einem schlaksigen Junghund mit glänzendem schwarzem Fell und dicken Pfoten gemausert hatte, sah hechelnd zu ihr auf und trabte ihr über den Hof hinterher.
Das einfache Baumwollkleid mit dem blauen Blumenmuster, das Mabel genäht hatte, ließ die dünnen Arme und Beine des Mädchens frei. Mit langen, festen Schritten ging sie durch das frische Gras unter der ergrünenden Pappel, und als sie näher kam, sah Mabel ihre gebräunte Haut. Sie trug weder Schuhe noch Mokassins.
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