Das Schneemädchen (German Edition)
sang- und klanglos durchgebrannt?»
«Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber ich hoffe, Faina kommt bald. Ich muss ihr noch mit dem Kleid und ihrer Frisur helfen. Wie spät ist es denn?»
«Fast zwölf Uhr mittags. Es wird Zeit.»
Im nächsten Moment drang vom Fahrweg ein seltsames Rumpeln zu ihnen.
«Was ist das?», fragte Mabel.
«Das wird Bill sein», sagte George, und schon kam ein blitzblankes Automobil um die Ecke geholpert, das eine Staubfahne hinter sich herzog.
Esther schnitt eine Grimasse. «Ein Geschenk von den Schwiegereltern. Ist bestimmt angenehm, wenn man Geld hat wie Heu.»
Jack stand da wie vom Donner gerührt. «Ist das so ein Pritschenwagen, von dem man immer liest?»
«Jawoll. Ein Ford Model A mit offener Ladefläche», prahlte George; Esther sah zu Mabel hin und verdrehte die Augen.
«Der musste von Kalifornien hier raufgeschippert werden und dann noch auf den Zug verladen. Bloß damit sie von uns zu euch fahren können», raunte Esther Mabel zu.
Das Automobil kam auf der Wiese kurz vor dem Gartentisch mit viel Knirschen zum Stehen, der älteste Sohn der Bensons öffnete den Schlag und stand grinsend auf dem Trittbrett.
«So reist es sich doch ganz hübsch, oder?», rief er, blickte zu Mabel und tippte an seinen weißen Filzhut.
«Setz mal ein Stück zurück», sagte Esther. «Musst ja nicht gerade mitten im Essen parken.»
«Schon gut, Ma. Wird gemacht.»
Bill, seine Frau und die zwei kleinen Kinder, die nach und nach aus dem Automobil zum Vorschein kamen, wirkten wie den Straßen von Manhattan entsprungen. Die Kinder waren mit Rüschenkleidchen, Schleifen und in der Sonne aufblitzenden Lackschuhen ausstaffiert. Die Frau trug ein modisches, loses Kleid aus malvenfarbener Seide und einen tief gezogenen Hut ohne Krempe; ihr Haar war auf Kinnhöhe gestutzt.
«Sie sehen gar nicht so aus, als gehörten sie überhaupt zur Familie, oder?», flüsterte Esther Mabel ins Ohr. «Aber bloß deswegen kann man sie ja nicht gut vor die Tür setzen.» Und wahrhaftig, zu Mabels Überraschung entpuppten sich alle als reizend und nett. Lydia, Bills Frau, erbot sich sogleich, mit dem Essen und den Blumen und allem zu helfen, was sonst noch anfiel, und die Kinder rannten vergnügt um die Wiese.
Als Nächster traf Michael ein, der zweite Sohn der Bensons, mit seiner Frau und drei Töchtern, deren jüngste noch von der Mutter auf dem Arm getragen wurde.
«Ist sie denn schon da? Nicht zu fassen, dass keiner von uns sie bisher je gesehen hat», hörte Mabel die beiden jungen Ehefrauen flüstern. «Was sie wohl anhaben wird? Weiß jemand irgendwas über das Kleid?»
Während sie Esther half, weiße Tischtücher auf Garten- und Küchentisch auszubreiten, versuchte Mabel, an nichts anderes zu denken als an den sich bauschenden Stoff und das raue, rissige Holz unter dem Leinen, dessen Falten sie mit den Fingern glatt strich.
Ich bin da.
Die Stimme drang wie ein Flüstern an ihr Ohr, doch als Mabel sich umwandte, war niemand zu sehen.
Hier. Im Haus. Hilfst du mir?
Es war Faina. Ihre Stimme kam durch den leeren Fensterrahmen des Blockhauses. Wie war sie von allen unbemerkt dorthin gelangt? Mabel entschuldigte sich bei den anderen für einen Moment und trat hinein. Durch das Balkenwerk über ihrem Kopf fielen schräge Streifen von Sonnenlicht und blendeten sie.
Hier bin ich.
Hast du das Kleid schon angezogen?
Nein. Du darfst es noch nicht sehen. Aber hilfst du mir mit meinen Haaren?
Faina stand barfuß in dem Baumwollunterkleid da, das Mabel ihr genäht hatte. Ihr Bauch war kaum merklich gewölbt, eben genug, dass das Unterkleid dort spannte, wie auch über ihren Brüsten. Faina war wahrhaftig kein Kind mehr, sondern eine große, schöne junge Frau, und nie war sie Mabel so sehr als Wesen aus Fleisch und Blut, so voller Leben erschienen. Rasch ließ sie den behelfsmäßigen Vorhang hinter sich zufallen. Morgens hatte sie den Glockenhut und den Brautschleier hier an einen Haken gehängt und den Handspiegel und die Bürste mit den Wildschweinborsten bereitgelegt, deren Perlmuttgriffe in der Sonne schimmerten. Faina warf die Haare über ihre bloße Schulter zurück.
Kannst du sie mir flechten?
Das würde wunderbar zu dem Schleier passen, den ich für dich gemacht habe, Kind.
Und so bürstete Mabel Fainas lange, weißblonde Haare, bürstete kleine Flechtenstückchen heraus, dünne Streifen Birkenrinde, winzige gelbe Grasbüschel. Endlich waren sie glatt wie Seide, und Mabel flocht sie zu zwei
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