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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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deutlich vor sich, dass sie sogleich zu zeichnen begann und Tage mit Nähen und Sticken zubrachte. Für die vorhandenen Streifen und Reststücke von der Rohseide musste sie sich beim Zusammennähen einiges einfallen lassen; zum Glück war es ein schlichtes Kleid, das nicht viel Stoff brauchte. Es hatte lange Ärmel und ein leicht anliegendes Oberteil, der Rock war gerade geschnitten und knöchellang. Der Ausschnitt ließ eben noch das Schlüsselbein sehen. Es war weder so flott und frivol wie die kniekurzen Hängekleider, die sich in den letzten Jahren solcher Beliebtheit erfreuten, noch glich es den hochgeschlossenen, strengen Roben aus Mabels Jugend. Dies hier war etwas ganz anderes, es ließ Mabel an Hochzeiten in europäischen Dorfkapellen denken, an Alpenschönheiten und russische Mägdelein.
    Das Kleid selbst nähte sich mit Leichtigkeit; die Stickerei war es, die Mabel bis spät in die Nacht wach hielt. Tief gebeugt saß sie am Küchentisch und blinzelte, als drohe sie die Sehkraft zu verlassen. Mit weißem Seidengarn stickte Mabel winzige Blumensterne, zart verschlungene Ranken und tautropfenförmige Blätter auf die Ärmel, das schmale Oberteil und hingestreut auch auf den Rock. Die reinweißen Stiche auf der elfenbeinfarbenen Seide entfalteten eine raffinierte Wirkung; bei einem bestimmten Lichteinfall erschienen die Blumen wie Schneeflocken, die Ranken wie Verwirbelungen im Schnee.
    Doch noch hatte Mabel das Kleid nicht an Faina gesehen.
    Es ist eine Überraschung, sagte Faina. Warte nur ab.
    Mabel hatte es doch selbst genäht, wie konnte es da eine Überraschung sein? Aber das Mädchen ließ sich einzig das Versprechen abnehmen, es rechtzeitig zurückzubringen, wenn es nicht passte und geändert werden musste. Seither hatte Faina sich nicht mehr bei ihr blickenlassen.
    Garrett war an diesem Morgen ebenfalls nirgends zu entdecken, und er hatte immerhin die Trauringe bei sich. Um die gab es ebenfalls Heimlichtuerei – Esther wollte ursprünglich, dass eines der Enkelkinder die Trauringe überreichte und ein anderes als Blumenmädchen fungierte. Garrett zufolge hatten er und Faina jedoch andere Pläne. Er bat Mabel, einen Blumenkranz zu flechten.
    «Für Fainas Kopf?», fragte Mabel mit zitternder Stimme. Nein, dachte sie. Das lasse ich nicht zu. Keine Brautkrone aus Blumen.
    «Nö, nicht für Faina», sagte Garrett. «Er muss größer sein. Ungefähr so.» Seine Arme deuteten den Umfang einer großen Rührschüssel an.

    Mabel hatte bis zum Tag der Hochzeit gewartet, weil Wildblumen in der Sommerhitze rasch welkten. Und heiß war es wahrhaftig an diesem Morgen. Kaum acht Uhr vorbei und schon jetzt kein Tau mehr auf den Blättern; über den Berggipfeln hing sengend die arktische Sonne.
    Blumen für Fainas Schleier und Blumen für ihren Brautstrauß, Blumen für die Einmachgläser und Blumen für den Kranz, um den Garrett gebeten hatte, Blütenblätter und Stängel, grünes Laub und frisch Erblühtes – Mabel wollte ganz darin aufgehen, wie zuvor in der Stickerei, wollte dem Gefühl entfliehen, dass das Schicksal über die Berge heranrollte wie ein schweres Gewitter. Sie wollte alles vergessen, schmelzende Schneeklumpen und Blumenkränze, hitzige Küsse und Märchen mit diesem oder jenem Ende.
    Vorsichtig, um sich nicht ihr neues, selbstgenähtes Baumwollkleid zu zerreißen, nahm Mabel den Zinkeimer und ging am Wiesenrand entlang: Weidenröschen, deren hohe Stängel soeben fuchsienrot erblühten, süß duftende Glockenblumen, wilde Rosen mit fünf rosa Blütenblättern und dornigen Stielen, lavendelfarbener Storchschnabel, die hauchfeinen Blüten violett geädert. Tiefer im Wald, geschützt vor der gnadenlosen Sonne, fand Mabel zarten weißen Siebenstern auf Stängeln, so dünn und straff wie Zwirnsfäden, Hartriegel mit seinen ausladenden, weißen Blüten, Eichenfarn und Frauenfarn und, ganz zuletzt, ein paar Zweige mit wilden Johannisbeeren, deren vielzackige Blätter und reife rote Früchte wie durchscheinende Edelsteine schimmerten.

    Als sie Weidenröschen und Eichenfarn in Einmachgläsern voll kaltem Flusswasser anordnete, kamen die Bensons.
    «Na, da schaust du», sagte Esther und sprang vom Wagen herunter.
    «Du meine Güte, Esther, ich glaube, ich habe dich noch nie in einem Kleid gesehen!»
    «Gewöhn dich gar nicht erst dran. Für den Empfang danach habe ich meine Latzhose mitgebracht.» Lachend umarmten sich die beiden Frauen.
    «Und, wo steckt das glückliche Paar? Sie sind doch nicht etwa

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