Das Schneemädchen (German Edition)
Zöpfen, die ordentlich rechts und links über Fainas Brust fielen. Als das Mädchen durch den leeren Fensterrahmen nach draußen schaute, zog Mabel eine kleine Nähschere aus ihrer Kleidertasche und schnitt von einem Zopf ein paar Haare ab, die sie mitsamt der Schere heimlich in der Tasche verschwinden ließ.
So. Nun schau. Du siehst wunderhübsch aus.
Auf meinen Kopf kommt – ein Schleier, hast du gesagt?
Erst musst du das Kleid anziehen.
Ich schaffe das schon. Hilf mir nur mit dem Schleier, bitte. Du darfst das Kleid noch nicht sehen.
Mabel nahm den Glockenhut und den Schleier vom Haken und steckte beides mit Haarnadeln auf Fainas Kopf fest. Dann wand sie die rosa Wildrosen und die weißen Blüten des Siebensterns in den Spitzensaum rings um Fainas Gesicht. So war es keine Brautkrone, kein Blumenkranz, der aus der Erde sprießen konnte.
Jetzt geh, damit ich das Kleid anziehen kann.
Bist du sicher? Es wäre ja immer noch eine Überraschung.
Mabels Blick irrte umher, doch das Kleid war nirgends zu sehen.
Bitte.
Ist gut. Ist gut, Kind. Dann erwarten wir dich alle draußen. Dein Brautstrauß ist hier, in dem Eimer.
Faina griff nach Mabels Hand und drückte sie, kräftig und warm. Mabel erwiderte den Druck, hob dann einer plötzlichen Eingebung folgend die Hand des Mädchens an ihre Lippen und küsste sie.
Ich habe dich sehr lieb, Kind, flüsterte sie.
Fainas Blick war ruhig und voller Zuneigung.
Ich möchte eine solche Mutter sein, wie du sie für mich bist, sagte sie so leise, dass Mabel ihren Ohren nicht traute. Doch ebendas waren ihre Worte gewesen, und Mabel behielt sie für immer in ihrem Herzen.
Als Faina über die Schwelle des Blockhauses auf die Wiese trat, senkte sich Schweigen über die kleine Versammlung. Selbst die Kinder verstummten und blickten sie mit großen Augen an, und Faina neigte den Kopf zu ihnen herunter und lächelte, als seien sie ihr seit Urzeiten bekannt und vertraut.
Auf den ersten Blick erschien Mabel das Kleid unverändert. Es passte Faina wie angegossen und raschelte leicht, wenn sie sich bewegte. Dazu trug sie mit schimmernden weißen Perlen bestickte Ledermokassins, die die Waden hinauf von weißen Schnüren gehalten wurden. Der Schleier floss über ihren Rücken, ihre Stirn zierten die eingeflochtenen Blüten. In der Hand hielt sie den Brautstrauß aus wilden Blumen, Farn und Johannisbeerrispen.
Und dann, als Faina näher trat, sah Mabel die Federn – weiße Federn, um den Ausschnitt des Kleides genäht. Sie lagen so flach am Stoff an, dass sie Teil der Rohseide zu sein schienen, nur eine Abwandlung der Gewebestruktur. Nun erkannte Mabel auch das Muster: Von den Schultern bis zur Mitte der Brust wurden die Federn immer größer. Weitere waren am Saum festgemacht, und nicht eine überdeckte Mabels gestickte Schneeblumen, alle fügten sich wie selbstverständlich in den Entwurf.
Mabel hörte jemanden vernehmlich Luft holen, vielleicht eine der jungen Frauen, doch da schritt Faina schon an ihr vorbei auf Jack zu, und sie sah das Kleid von hinten. Schneeweiße Federn liefen fächerförmig von der Mitte des Rocks nach unten, größer und immer größer, bis zum Saum, wo einige so lang waren wie der Unterarm einer Frau; auch hier lagen alle Federn dicht am Stoff an und folgten sacht jeder Bewegung der Seide, hatten den gleichen zarten Glanz wie sie, ein Strahlen, das aus dem Inneren der Fasern selbst zu dringen schien.
Jack, in seinem besten und einzigen Anzug, bot Faina den Arm und schritt langsam mit ihr zum Fluss, wo Gläser mit Wildblumen auf Baumstümpfen standen. Es roch betäubend nach frisch gefällten Fichten. Alle schlossen sich schweigend an, und das Rascheln von Fainas Kleid ging in das sanfte Rauschen des Flusses über. Sie stellten sich am Ufer auf, hinter sich die zerklüfteten, verschneiten Berggipfel.
«Wo ist Garrett?», hörte Mabel jemanden flüstern. Die Hochzeitsgäste traten in ihren guten Schuhen unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, und das Baby ließ ein Wimmern vernehmen. Die Sonne brannte unerträglich heiß auf Mabels Kopf und Schultern, die gleißende Helligkeit schmerzte sie in den Augen. Als sie zu Jack hinsah, nickte er ihr zu und deutete mit dem Kinn in Richtung des Fahrwegs. Sie drehte sich um, und da war Garrett, auf seinem Pferd, preschte quer über die Wiese. Auch er trug einen schönen Anzug, hielt mit der einen Hand einen schwarzen Hut auf seinem Kopf fest und mit der anderen die Zügel. Neben dem Pferd, mit
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