Das Schneemädchen (German Edition)
spurtete davon. Bevor sie hinter einer der größten Fichten verschwand, blickte sie über die Schulter zurück, und Mabel sah blitzende blaue Augen und ein koboldhaftes, kleines Gesicht. Sie war nicht älter als acht, neun Jahre.
Mabel folgte ihr, kämpfte sich durch den knietiefen Schnee und duckte sich unter den Zweigen hindurch. Schnee patschte auf ihre Strickmütze und tropfte in ihren Mantelkragen, aber sie schob sich weiter durch das Gestrüpp. Als sie hervorkam und sich den Schnee aus dem Gesicht wischte, entdeckte sie dort, wo das Kind gewesen war, einen Rotfuchs. Er hatte die Schnauze in den Schnee gedrückt, sein Rücken war gekrümmt wie bei einer Katze, die Milch aus einem Napf schleckt. Plötzlich ruckte sein Kopf zur Seite, und er zerriss etwas mit den Zähnen. Mabel war wie gebannt. Noch nie war sie einem wilden Tier so nah gewesen. Nur wenige Schritte, und sie hätte das schwarz durchsetzte, rotbraune Fell berühren können.
Den Kopf gesenkt, schaute das Tier sie kurz an, die langen schwarzen Barthaare neben der spitzen Schnauze zuckten. Da sah Mabel das Blut, und sie musste gegen einen Würgreiz ankämpfen. Der Fuchs fraß etwas Totes, Blut spritzte in den Schnee und beschmierte seine Schnauze.
«Nein! Weg da! Mach, dass du hier wegkommst!» Mabel fuchtelte mit den Armen, zornig und mutig ging sie auf den Fuchs zu. Das Tier zögerte, war vielleicht nicht gewillt, seine Mahlzeit preiszugeben, doch dann drehte es sich um und schnürte auf der Spur des Mädchens in den Wald.
Mabel ging hinüber zu der Stelle im Schnee und sah, was sie gehofft hatte, nicht zu sehen. Ein widerwärtiges Gemenge – silbrige Eingeweide, winzig kleine Knochen, Blut und Federn.
Sie hatte die Hühner an diesem Morgen nicht gezählt. Sie sah genauer hin – es war gar keine von ihren Hennen, sondern irgendein Wildvogel mit gesprenkeltem braunem Gefieder und einem kleinen, teils abgerissenen Kopf.
Sie ließ das halb aufgefressene Ding liegen und folgte dem Gewirr aus Kinder- und Fuchsspuren in den Wald. Ein Windstoß wehte Schnee von den Ästen und blies Mabel kalt ins Gesicht. Er erschwerte das Atmen, weswegen sie den Kopf wegdrehte und weiterstapfte. Der Wind frischte auf, wirbelte vom Boden und von den Bäumen Schnee in die Luft. Er blies jetzt ständig, Mabel stemmte sich mit gesenktem Kopf dagegen, aber so konnte sie nicht mehr sehen, wohin sie ging. Ein kleiner Schneesturm peitschte unversehens los. Mabel kehrte Wind und Schnee den Rücken und machte sich auf den Nachhauseweg. Sie war für einen solchen Ausflug nicht gerüstet, und das Mädchen war jetzt sicher schon zu weit weg. Noch während sie zum Stall ging, verwehte der wirbelnde Schnee ihre Fußstapfen und auch die von Kind und Fuchs. Sie sah keinen toten Vogel und keine Blutflecken, als sie an der Stelle vorüberkam – auch sie waren verschwunden.
«Ich habe das Kind gesehen», berichtete Mabel Jack, als er zum Essen hereinkam. «Das Mädchen von gestern Abend, das du beschrieben hast – ich habe sie hinter dem Stall gesehen.»
«Ganz sicher?»
«Ja. Ja. Ein Fuchs ist ihr gefolgt, und ich dachte schon, er habe ein Huhn gerissen, aber es war keins von unseren Hühnern, es war ein Wildvogel.»
Jack kniff die Augen zusammen, als sei er verstimmt.
«Ich habe sie wirklich gesehen, Jack.»
Er nickte und hängte seinen Mantel an den Haken neben der Tür.
«Hast du gehört, dass irgendwo ein Kind vermisst wird?», fragte sie. «Als du gestern in der Stadt warst, ist dir da etwas zu Ohren gekommen?»
«Nein, nichts.»
«Hast du dich umgehört? Hast du jemandem von ihr erzählt?»
«Nein. Ich hielt es nicht für nötig. Ich dachte mir, sie ist bestimmt nach Hause gegangen, sonst hätten die Leute sich zu einem Suchtrupp zusammengeschlossen.»
«Aber heute war sie wieder da. Direkt bei unserem Stall. Was will sie hier? Wenn sie sich verirrt hat oder Hilfe braucht, warum kommt sie nicht einfach an die Tür?»
Er nickte verständnisvoll, wechselte dann aber das Thema. Er sagte, er habe nichts erspäht außer einer Elchkuh mit einem Kalb. Sie würden die Hühner schlachten müssen, wenn der Futtersack erst leer wäre; sie hätten nicht genug Geld, um neues Futter zu kaufen. Die gute Nachricht sei, fuhr er fort, er habe George gestern in der Hotelgaststätte getroffen und die Bensons für den kommenden Sonntag zum Essen eingeladen.
Erst bei diesem letzten Satz horchte Mabel auf. Sie freute sich, dass die Bensons kommen würden. Esther konnte ihr bestimmt
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