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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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ankämpfen musste. Als er im Frühjahr angefangen hatte, Bäume zu fällen und den Boden umzugraben, erhoben sich von der aufgestörten Erde Wolken von Mücken. Er trug ein Schutznetz über dem Kopf, konnte kaum sehen, doch ohne das Netz hätte er es nicht ausgehalten. Wenn er dem Pferd mit der Hand über die Flanken fuhr, war seine Handfläche jedes Mal blutig von vollgesogenen Insekten.
    Dies immerhin war ein Segen – es war jetzt zu kalt für Mücken. Dahin waren auch die sommerliche Üppigkeit, das dichte Grün der Pappelzweige, die breiten Blätter des Bärenklaus, das Flammen der Weidenröschen. Vom Laub entkleidet, strebten die verschneiten Kämme und Klüfte wie ein wettergebleichtes Rückgrat zu den Bergen empor. Jack spähte durch die kahlen Bäume und erblickte kein Lebenszeichen. Keine Elche, keine Eichhörnchen, keinen einzigen Singvogel. Ein zerzauster Rabe flog über ihn hinweg und zog weiter, als sei er auf der Suche nach ergiebigeren Gründen.
    Als Jack seinen Brüdern mitteilte, er gehe nach Alaska, hatten sie ihn beneidet. Gottes gesegnetes Land, sagten sie. Das Land, wo Milch und Honig fließen. Elche, Karibus und Bären – massenhaft Wild, sodass man gar nicht weiß, was man zuerst schießen soll. Und die Flüsse so voller Lachse, dass man auf ihren Rücken ans andere Ufer schreiten kann.
    Wie anders war doch die Wahrheit, die er vorgefunden hatte. Alaska gab nichts mühelos preis. Es war karg und wild und gleichgültig gegenüber dem Kampf des Menschen; er hatte es in den Augen jenes Rotfuchses gesehen.

    Jack kam zu einem Baumstamm und unternahm einen halbherzigen Versuch, den Schnee herunterzuwischen, bevor er sich setzte. Er legte die Flinte über die Knie, nahm die Wollmütze ab und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Eine Weile saß er vornübergebeugt, die Ellenbogen auf die Flinte, den Kopf in die Hände gestützt. Zweifel krochen ihm über die Schulter, drohten ihm die Kehle zuzuschnüren und flüsterten ihm ins Ohr, du bist ein alter Mann. Ein alter, alter Mann.
    Wenn er hier im Wald tot umfiele, würde ihm nichts zu Hilfe eilen. Der Nordwind bliese vom Gletscher herab, der Boden bliebe gefroren, und ein Rotfuchs wie der eine, dem er in die Augen gesehen hatte, könnte der erste sein, der an seiner Leiche schnupperte und hier und da einen Bissen knabberte. Raben und Elstern würden kommen und an seinem gefrorenen Fleisch zerren, am Ende fände womöglich ein Rudel Wölfe den Weg zu seinem Kadaver und bald wäre nur noch ein Haufen verstreuter Knochen von ihm übrig. Seine einzige Hoffnung wäre Mabel, aber dann stellte er sich vor, wie sie sich mit seinem toten Gewicht abmühte. Er stand auf und schulterte die Flinte.
    Er hatte in seinem Erwachsenendasein erst wenige Male geweint – als seine Mutter starb und als er und Mabel das Baby verloren hatten. Jetzt gestattete er es sich nicht. Er setzte einen Fuß vor den anderen und ging, ohne etwas zu sehen oder zu empfinden.

    Es war die Stille, die ihn aus seiner Betrübnis riss. Eine Stille voller Gegenwart. Er hob den Kopf.
    Es war das Kind. Die Kleine stand vor ihm, nur wenige Schritte entfernt im Schnee, die Arme an den Seiten, die Andeutung eines Lächelns auf den blassen Lippen. Ihr Mantel und die Lederstiefel waren mit weißem Pelz verbrämt. Das Gesicht war von einer samtig braunen Mütze aus Marderfell umrahmt, und sie trug Mabels roten Schal und die Fäustlinge. Sie war mit Eiskristallen überstäubt, als sei sie soeben durch einen Schneesturm gelaufen oder habe eine klirrend kalte Nacht im Freien verbracht.
    Jack wollte sie ansprechen, doch ihre Augen – von gebrochenem Blau wie Flusseis, Gletscherspalten, Mondlicht – hielten ihn zurück. Sie blinzelte, und die blonden Wimpern glitzerten von Frost, dann sauste sie davon.
    «Warte!», rief er. Er taumelte hinter ihr her. «Lauf nicht weg! Hab keine Angst!»
    Er war ungeschickt, stolperte über seine Stiefel und wühlte Schnee auf. Das Mädchen spurtete voraus, blieb jedoch öfter stehen und drehte sich nach ihm um.
    «Bitte», rief er wieder. «Warte!»
    Ein Laut drang an Jacks Ohr, wie Wind, der trockenes Laub aufwirbelt oder Schnee übers Eis bläst, oder vielleicht ein Flüstern aus weiter Ferne. Schschsch .
    Er rief nicht noch einmal. Er duckte sich unter Ästen hindurch und watete durch den Schnee, und das Mädchen führte ihn immer tiefer in den Wald hinein. Er musste auf seine Füße achten, um nicht zu stolpern, doch immer, wenn er aufsah, wartete sie.
    Und dann

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