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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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nicht mehr. Er blieb stehen, blinzelte, suchte nach ihren Spuren im Schnee. Er fand keine. Wieder einmal wurde er der Stille gewahr, des eigenartigen Schweigens des Waldes.
    Hinter sich vernahm er ein zirpendes Pfeifen wie den Ruf einer Meise, und er drehte sich um in der Erwartung, einen Vogel zu sehen oder vielleicht das Kind. Stattdessen stand keine fünfzig Meter entfernt ein Elchbulle. Er hob den Kopf, langsam, als seien die mächtigen Schaufeln mit den vielen Enden eine schwere Bürde. Die lange Nase und die braunen Rückenhaare waren mit Schnee bestäubt. Er schwenkte das Geweih bedächtig von einer Seite auf die andere. Jack hatte noch nie ein so prachtvolles Tier gesehen. Es stand auf schlaksigen Beinen, die Schulterhöhe maß sicher mehr als zwei Meter, und der Hals war dick wie ein Baumstamm.
    In seiner Verwunderung hätte Jack beinahe das Naheliegende übersehen: Dies war seine Beute. Er hatte als Junge nur wenige Male gejagt, vorwiegend Kaninchen und Fasane, erinnerte sich aber vage an eine Rotwildjagd mit seinen Vettern an einem kalten, nassen Morgen. Das hier war etwas anderes. Es war kein Sport oder Kindheitsabenteuer. Hier ging es um Lebensunterhalt, dennoch war er schlecht vorbereitet. Er hatte nur eine undeutliche Erinnerung an jene Rotwildjagd, wusste aber, dass er keinen Schuss abgegeben hatte.
    Er erwartete, dass das Tier erschrecken würde, als er eine Patrone in die Flintenkammer legte, doch es war nur mäßig interessiert und äste weiter an den Enden von Weidenzweigen.
    Jack drückte den Flintenschaft an die Wange und zwang seinen Griff zur Ruhe. Sein Atem stieg dampfend in die kalte Luft und trübte die Sicht, deshalb zielte er mit angehaltenem Atem auf das Herz des Elches und betätigte den Abzug. Er hörte weder den Knall, noch spürte er den Rückstoß der Flinte. Es gab nur den Moment des Einschlags, das Taumeln des Bullen, als sei ein starkes Gewicht auf ihn herniedergekracht, und dann sein Fallen.
    Jack ließ die Flinte sinken und ging ein paar Schritte auf den Elch zu. Das Tier strampelte mit den Beinen und verdrehte den Hals in einem unglücklichen Winkel. Jack lud nach. Der Elch schlug im Schnee um sich, und Jack sah ihm eine Sekunde lang in die wild rollenden Augen. Er hob die Flinte und schoss dem Tier eine Kugel in den Schädel. Es rührte sich nicht mehr.
    Jack lehnte die Flinte an einen Baum und ging mit zitternden Knien zu dem toten Elch. Er legte eine Hand an seine noch warme Flanke und bekam erst jetzt einen Begriff von seiner Größe. In dem Geweih hätte Jack schaukeln können wie in einer Wiege, und den Brustkorb hätte er nicht mit den Armen umspannen können. Der Elch musste mehr als tausend Pfund wiegen, und das hieß viele hundert Pfund gutes, frisches Fleisch.
    Er hatte es vollbracht. Sie hatten Nahrung für den Winter. Er würde nicht ins Bergwerk gehen. Er hätte aufspringen und juchzen und schreien mögen. Er wollte Mabel fest auf den Mund küssen. Er wollte, dass jemand wie George ihm anerkennend auf den Rücken schlug.
    Er wollte feiern, doch er war allein. Der Wald hatte etwas Ernstes, Würdevolles, und unter der Begeisterung in Jacks Innerem schlummerte noch etwas anderes. Es war kein Schuldgefühl oder Bedauern. Es war verzwickter. Er packte das Geweih auf beiden Seiten am Ansatz, um den Kopf zu drehen. Er war schwer, aber indem sich Jack in das Geweih stemmte, konnte er Kopf und Hals herumwuchten. Dann zog er das Messer aus seinem Bündel, schärfte es an einem Wetzstahl, und die ganze Zeit über sann er über das Gefühl in seinem Inneren nach. Schließlich erkannte er es – es war das Gefühl, etwas zu schulden.
    Er hatte ein Leben ausgelöscht, ein bedeutsames Leben, nach dem Tier zu urteilen, das da ausgestreckt vor ihm lag. Er hatte die Pflicht, sich des Fleisches anzunehmen und es dankbar nach Hause zu schaffen.
    Es hatte aber auch mit dem Kind zu tun. Ohne die Kleine hätte er den Elch niemals gefunden. Sie hatte ihn hierhergeführt und aufmerksam gemacht, als er tölpelhaft an dem Tier vorübergegangen war. Sie bewegte sich mit der Anmut eines wilden Geschöpfs durch den Wald. Sie kannte den Schnee, und der trug sie sanft. Sie kannte die Fichten, schlüpfte geschickt zwischen ihren Ästen hindurch, und sie kannte die Tiere, die Füchse und Hermeline, die Elche und Singvögel. Sie kannte dieses Land in- und auswendig.
    Als Jack sich in den blutbefleckten Schnee kniete, fragte er sich, ob der Mensch auf diese Art seinen Teil der Abmachung einhielt

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