Das Schneemädchen (German Edition)
gefrieren. Ich musste sie zur Sicherheit dicht bei mir behalten.» Sie lachte und sah Mabel an, als nähme sie sie endlich wahr. Dann schlang sie ihre Arme um Mabels Schultern, drückte sie an sich und legte ihre kalte Wange an Mabels.
«Oh, es tut so gut, dich zu sehen. Seit dem Erntedankfest lieg ich George in den Ohren, dass er uns herbringt. Man hat’s in diesem Land als Frau nicht leicht, oder? Zu viele Männer, wenn du mich fragst. Und ich hab natürlich nichts Besseres zu tun, als selbst lauter Jungs zu kriegen, als gäb’s nicht schon genug davon.» Lachend schüttelte sie ihren langen Zopf. Dann sah sie sich im Haus um, und Mabel empfand eine Mischung aus Stolz und Scheu; sie war sich sicher, dass Esther die Vorhänge und die saubere Küche unter die Lupe nahm und ihre hausfraulichen Fähigkeiten begutachtete.
«Schmuckes Häuschen habt ihr hier. George sagt, ihr hättet Probleme mit eindringendem Frost, aber so geht’s uns allen an diesen kalten Tagen. Einfach das Feuer ordentlich prasseln lassen, sag ich. Wie’s aussieht, habt ihr ’nen robusten Holzofen. Das ist die Hauptsache.»
Esther stand neben dem Ofen, ganz so, wie Jack es immer tat, und hielt die gespreizten Finger in die Wärme. Mabel wurde jetzt klar, dass sie sich den Ofen noch nie genau angesehen hatte, genauso wenig wie Esther den sorgfältig gedeckten Tisch oder die wenigen Fotografien an den Wänden bemerkt hatte. Es war, als sähe sie ein ganz anderes Haus.
«Jack ist noch nicht nach Hause gekommen. Er müsste jeden Moment hier sein, dann können wir essen. Tee gefällig? Ich habe Wasser aufgesetzt.»
«Oh, das wäre fabelhaft. Ich bin durchgefroren und nass. Aber ich will nicht klagen. Ich hatte Schnee immer gern.»
«Das kann ich mir vorstellen. Zumindest kann ich sagen, dass ich mich endlich daran gewöhne. Man muss sich hier ja an so vieles gewöhnen.»
Esther lachte. «Ein wahres Wort. Ich weiß nicht, ob man sich jemals richtig dran gewöhnt. Es geht einem bloß ins Blut, sodass man’s nirgends anders mehr aushält.»
Die Frauen setzten sich an den Tisch; Mabel trank ihren Tee, und Esther redete. Mabel wartete auf eine Gelegenheit, nach dem Kind zu fragen, aber Esther ließ sie gar nicht zu Wort kommen.
«Ich weiß, ich quatsche dir heute Abend die Ohren voll. Es ist einfach zu schön, eine Frau zum Besuchen zu haben. Die Jungs sind ja sehr nachsichtig, aber eigentlich ist es ihnen lieber, wenn ich den Mund halte. Wenn wir essen, höre ich nur Grunzen und Räuspern, kann ich mehr hiervon oder davon haben. Ich setze mich gern gemütlich hin und unterhalte mich. Das ist aber auch schon fast alles, was ich manchmal vom Stadtleben vermisse. Ein gutes Gespräch von Zeit zu Zeit. Es kommt mir auch gar nicht so drauf an, worüber wir sprechen.»
Dann erzählte sie von der letzten Ernte und den Erweiterungsplänen der Eisenbahn, dass die hohen Tiere eigens aus Washington hergekommen waren, um die Gleise zu inspizieren und für Fotografien zu posieren, und dass der Bergbau und der Ausbau der Bahnverbindung eine erhöhte Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen mit sich bringen würden. Sie erzählte von den Wölfen am Fluss und dass ihr jüngerer Sohn Fallen aufstellen wolle, um die Fangprämie zu kassieren.
«Der Junge hat sich noch nicht blickenlassen, nein? Er sollte sich hier mit uns treffen, er kommt mit dem Pferd über den Fluss.»
Dann kam Esther auf den Fuchs zu sprechen, den Jack auf den Feldern gesehen hatte. «Diese Biester schnappen dir die Hühner weg, sobald sich ihnen die Gelegenheit bietet», sagte sie. «Du solltest ihn erschießen, wenn du ihn das nächste Mal siehst.»
In ihrem ganzen Leben war Mabel noch nie geraten worden, etwas zu erschießen. Sie erwähnte nicht, dass sie noch nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte. In Esthers Gegenwart erschien ihr das als ein peinliches Versäumnis.
«Oh. Ja», sagte sie. «Muss wohl sein.» Sie wollte gerade erzählen, dass sie den Fuchs tatsächlich gesehen hatte, zusammen mit einem kleinen Mädchen, unweit vom Stall, aber da flog die Tür auf.
«Das nennt man Anfängerglück», sagte George. «Jack hat den größten Elch im ganzen Tal geschossen. Mädels, das müsst ihr euch angucken.»
Mabel versuchte sich auszumalen, was sie im Stall zu sehen bekäme, während sie George und Esther durch den Schnee folgte. Sie erwartete ein vollständiges Tier mit Haut und Fell, noch ganz und gar ein Elch. Als sie ins Licht der Laterne trat und das abgetrennte
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