Das Schneemädchen (German Edition)
würde sie ausnehmen und rupfen und sich nicht ein einziges Mal beklagen, genau wie sie nie ein Wort über die schwindenden Vorräte oder das ewige Elchfleisch mit Kartoffeln verlor. In den vergangenen Wochen hatte sie gefrorene wilde Moosbeeren und Hagebutten gesammelt und davon einige Gläser Marmelade gekocht, und sie hatte es geschafft, einen Kuchen ohne Eier zu backen, der gar nicht so übel gewesen war. Sie behalf sich, und irgendwie bekam es ihr gut. Ihre Wangen schimmerten rosig, und sie lachte mehr als in den ganzen vergangenen Jahren, selbst wenn sie ihm schon wieder Elchsteak vorsetzen musste.
Endlich griff sie auch wieder zu ihren Büchern und zu den Stiften. Jack fiel das wohl auf. Die Kleine brachte ständig etwas Neues zum Zeichnen mit – eine Eulenfeder, eine Traube Vogelbeeren, einen Fichtenzweig mitsamt Zapfen. Dann steckten die beiden am Küchentisch die Köpfe zusammen, und Mabel führte den Stift übers Papier. Dabei blieb immer die Tür einen Spalt offen, «damit dem Kind nicht zu warm wird». Und Jack freute sich an dem Anblick.
Gleichzeitig jedoch bereitete es ihm Sorge zu sehen, wie sehr Mabel das Mädchen in ihr Herz schloss. Zugegeben, ihm selbst erging es nicht anders. Zwar stellte er sich nicht ans Fenster, doch er wartete genauso und hoffte, dass die Kleine kommen würde. Dass sie sich nicht einsam fühlte, nicht in Gefahr war. Dass sie zwischen den Bäumen hervortreten und lächelnd auf ihn zulaufen würde.
Bisweilen drängte es ihn sehr, Mabel die Wahrheit zu sagen. Er trug schwer an seinem Geheimnis und war sich nicht sicher, ob er sich nicht daran verhob. Er wollte Mabel von dem Toten erzählen und von der einsamen Stelle oben in den Bergen, wo er ihn begraben hatte. Er wollte ihr von dem merkwürdigen Türchen im Hang berichten. Das Wissen um die Leidensgeschichte des Kindes lag ihm wie ein schwerer, kalter Stein im Magen, und manchmal konnte er nicht in das bleiche, schmale Gesichtchen sehen, weil es ihm den Hals zugeschnürt hätte.
Er hatte dem Mädchen sein Wort gegeben, und doch diente ihm das vielleicht nur als Vorwand. Zu wissen, was das Kind an Schrecklichem hatte mitansehen müssen, würde Mabel das Herz zerreißen – und ihr noch mehr Trauer aufzubürden war das Letzte, was er wollte. Ihre Leidensfähigkeit jagte ihm Angst ein. Mehr als einmal hatte er sich gefragt, ob sie sich im November in vollem Bewusstsein der Gefahr auf den zugefrorenen Fluss gewagt hatte.
Jack griff ein Huhn bei den Füßen und trug das laut protestierende, flatternde Federvieh hinaus zum Hackklotz neben dem Holzhaufen. Auch ohne Kopf machte es noch eine ganze Weile mit dem Geflatter weiter. Nur noch elf, dachte Jack grimmig und legte den toten Vogel in den Schnee.
Jack hatte ursprünglich nicht vorgehabt, beim Rupfen zu helfen, aber dann erkannte er, wie unangenehm und langwierig diese Aufgabe für eine einzelne Person werden musste. Mit hochgekrempelten Ärmeln und von Kopf bis Fuß mit Federn bedeckt, standen sie nebeneinander an der Anrichte, tauchten Huhn um Huhn ins kochende Wasser und rupften den geschlachteten Tieren Handvoll um Handvoll das Gefieder aus. Sie versuchten, die roten, schwarzen und hellbraunen Federn in Rupfensäcke zu stopfen, doch schon bald schwebten mehr in der Luft oder klebten an den Bodendielen, als sich im Sack befanden.
«Vielleicht hätten wir das draußen machen sollen», sagte Mabel und versuchte dabei, mit dem Handrücken eine nasse Feder von ihrer Stirn zu wischen.
Jack schmunzelte. «Ich würde dir gern helfen, aber ich fürchte, ich würde die Sache nur schlimmer machen.» Er streckte ihr seine gefiederten Finger hin.
«Und dieser schreckliche Gestank», meinte Mabel. Der Dampf, der aus dem kochenden Wasser aufstieg, roch nach verbrühten Federn und halbgarer Hühnerhaut.
«Hör mal – was hältst du davon, wenn wir heute Abend Hühnchen essen?» Es fiel Jack schwer, nicht zu grinsen.
«Nein, ich könnte es nicht ertra- … Oh, du nimmst mich auf den Arm!» Sie schnipste eine Feder in seine Richtung.
Als er den nächsten Vogel zu rupfen begann, seufzte Mabel neben ihm tief.
«Was ist denn?»
«Das ist die liebe, gute Henny Penny.» Traurig betrachtete sie das tote Huhn in ihren Händen.
«Ich habe dir doch gesagt, du sollst ihnen lieber keine Namen geben.»
«An den Namen liegt es ja gar nicht. Egal, wie ich sie gerufen hätte, ich hätte sie immer auseinandergehalten. Henny Penny lief mir beim Eiersammeln immer hinterher, und sie hat dabei
Weitere Kostenlose Bücher