Das Schneemädchen (German Edition)
stieß Mabel halb erstickt vor Lachen hervor. «Wir sind zu alt für so was!»
«Tatsächlich?» Jack rieb seinen Bart an ihrer Wange. Sie kreischte und lachte, und er trug sie in die Schlafkammer, obgleich sie noch nicht einmal zu Abend gegessen hatten.
Kapitel 18
Die Moosbeeren, nach denen Mabel Ausschau hielt, zeichneten sich wie winzige Rubine gegen den Schnee ab. Sie hatte angenommen, die Beeren wären ungenießbar, doch Esther hatte ihr erklärt, sie würden durch den Frost sogar süßer und schmeckten köstlich zum Fleisch und als Marmelade. Es war Ende Februar, und die Temperaturen lagen nur noch knapp unter dem Gefrierpunkt. Der Himmel war blau, die Luft still, und im Freien war es überraschend angenehm. Mabel stapfte durch den tiefen Schnee in der Umgebung ihres Hauses; sie trug das Birkenkörbchen bei sich, das Faina ihnen geschenkt hatte. Einzeln hingen die kleinen Beeren an den dürren, kahlen Zweigen, doch ganz allmählich begann sich das Körbchen zu füllen.
Mabel wollte aus Moosbeeren, Gewürzen und Esthers Zwiebeln eine pikante Soße zubereiten. Vielleicht würde das Elchfleisch damit einmal ganz anders schmecken als das, was sie nun seit Wochen tagtäglich zu sich nahmen. Not macht offenbar wirklich erfinderisch, dachte Mabel und lächelte in sich hinein. Dann schaute sie auf und erblickte das Kind und den Fuchs.
Faina brachte es immer wieder fertig, Mabel zu überraschen – nicht nur dadurch, dass sie ohne Vorwarnung auftauchte, sondern auch durch die Art, wie sie dann vor ihr stand: mit hängenden Armen, in Wollmantel, Fäustlingen und Schal, das Gesicht vom flachsblonden Haar umrahmt, die braune Fellmütze und die Wimpern schneebestäubt. Ihr Gesichtsausdruck war ruhig und aufmerksam, als habe sie gewartet – Minuten? Jahre? – und dabei genau gewusst, dass Mabel irgendwann zu dieser Stelle im Wald kommen würde.
Mabel war sich nicht mehr sicher, wie alt das Mädchen sein mochte. Sie wirkte wie neugeboren und zugleich so uralt wie die Berge, mit den unausgesprochenen Gedanken in ihren lebendigen Augen, dem regungslosen Gesicht. Wenn sie das Kind hier im Wald vor sich sah, schien Mabel nichts mehr unmöglich und alles wahr.
Genauso außergewöhnlich war der Fuchs. Er saß neben Faina, die seidig rote Lunte um seine Füße gelegt und die Ohren nach vorn gestellt. In seinen Raubtieraugen und den schmalen schwarzen Lefzen las Mabel von tausend kleinen Toden, und sie konnte die Erinnerung an seine blutverschmierte Schnauze nicht aus ihren Gedanken bannen.
Ist er dein Freund?, fragte sie das Kind.
Faina zuckte mit den schmalen Schultern.
Wir jagen zusammen, sagte sie.
Wer tötet die Beute?, wollte Mabel wissen.
Wir beide.
Streichelst du ihn manchmal?
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
Früher schon, sagte sie. Als Welpe hat er Fleisch aus meiner Hand genommen und mich nie dabei gebissen. Nachts hat er manchmal bei mir geschlafen. Aber jetzt ist er zu wild. Wir laufen zusammen durch den Wald und jagen zusammen, aber mehr nicht.
Um zu zeigen, was sie meinte, streckte Faina die Hand nach dem Fuchs aus. Rasch duckte er sich weg, sprang um ihre Beine herum und fort in den Wald. Als die Kleine ihm nachschaute, glaubte Mabel Staunen und Sehnsucht in ihrem Blick zu lesen.
Faina wandte sich ihr wieder zu: Hast du viele Beeren gesammelt?
Ein paar, antwortete Mabel. Nicht so viele, wie ich eigentlich brauche. Aber der Tag ist wunderschön. Es macht nichts, dass ich schon fast den ganzen Vormittag damit verbracht habe.
Das Mädchen nickte und wies mit der Hand an einer Fichtengruppe vorbei.
Da vorn sind noch mehr, sagte sie.
Danke. Möchtest du nicht mitkommen?
Doch die Kleine lief bereits zum Haus. Leichtfüßig glitt sie über die Schneefläche, tauchte flüchtig zwischen den Baumstämmen auf, und Mabel war wieder allein im Wald. Sonnenlicht glitzerte auf dem Schnee, und sie hörte den Wind durchs Gletschertal brausen. Hier jedoch war es ruhig – so still, dass Mabel sich fragte, ob sie die ganze Zeit allein gewesen war. Sie ging in das Fichtendickicht.
Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, was sie da hörte. Mabel hatte ihr Körbchen bis zum Rand mit den Moosbeeren gefüllt, die ihr die Kleine gezeigt hatte. Sie zog ihre Fäustlinge wieder an und trug es vorsichtig, um nur ja keine Beeren in den Schnee zu verschütten. Als sie sich dem Haus näherte, schien ihr zunächst, als höre sie Rufe. Oder vielleicht auch Gesang. Erst als sie die Bäume hinter sich ließ und das
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