Das Schneemädchen (German Edition)
Existenz ließ sich ganz gewiss nicht leugnen.
Wenn Esther die sieht, weiß sie, dass es stimmt und das Mädchen wirklich existiert. Wie hätten sie und Jack ein Dutzend Engel zustande bringen sollen, die nur von einem kleinen Kind stammen konnten?
Nachdem Esther Mabel zunächst mit dem Mädchen geneckt hatte, war ihre freundschaftliche Sorge im Lauf des Winters immer mehr gewachsen. Sie fragte, ob Mabel genug an die frische Luft gehe, ob sie tagsüber zu viel schlafe. Sie forderte sie wiederholt auf, sie besuchen zu kommen, und als Mabel einwandte, sie kutschiere den Wagen ungern selbst, fand Esther sich fortan mit schöner Regelmäßigkeit bei ihr ein.
Es war nicht garantiert, dass Esther bald kommen würde, doch alle zwei, drei Wochen schaute sie vorbei, sofern das Wetter es zuließ am liebsten sonntagnachmittags. Seit ihrem letzten Besuch waren mehr als zwei Wochen vergangen, in wenigen Tagen wäre wieder Sonntag. Wenn es bis dahin nicht schneite, könnte Esther den Beweis für das kleine Mädchen aus dem Wald sehen – den Beweis, dass Mabel die Wahrheit gesprochen hatte.
Die Ungläubigkeit, die Esther ihr entgegenbrachte, war Mabel nur allzu vertraut. Sie musste an ihre Kindheit zurückdenken: Jahrelang hatte sie nach Elfen und Hexen Ausschau gehalten und sich von ihren älteren Geschwistern deswegen aufziehen lassen. Das Mädchen hat den Kopf voller Phantastereien, hatte ein Lehrer warnend zum Vater gesagt. Sie lassen sie zu viele Bücher lesen.
Mit acht Jahren war Mabel einmal fest davon überzeugt gewesen, eine Elfe gefangen zu haben. Sie hatte aus Zweigen eine Falle gebastelt und in die Eiche im Garten gehängt. Mitten in der Nacht sah sie vor ihrem Schlafzimmerfenster die Falle im Mondlicht hin und her schwanken, und als Mabel das Fenster öffnete, hörte sie ein hohes Gezwitscher – genauso stellte sie sich das Rufen einer gefangenen Elfe vor.
Ada! Ada!, hatte sie ihre Schwester geweckt. Ich habe eine Elfe gefangen. Komm schau! Jetzt siehst du, dass es sie wirklich gibt.
Und Ada war aus dem Bett gestiegen, murrend und mit schlafverquollenen Augen, sie waren barfuß und im Nachthemd zu der Eiche geschlichen. Doch als Mabel den kleinen Kasten vom Ast nahm und hineinblinzelte, sah sie keine Elfe, sondern einen angsterfüllt bebenden Singvogel. Sie öffnete das Türchen, aber der Vogel wollte einfach nicht herausfliegen. Daraufhin schüttelte Ada das Kästchen, der Vogel fiel ins Gras, und Mabel erkannte, dass er beinahe tot war. Noch bevor sie ihm im Haus einen Nistkasten auspolstern konnte, war er gestorben.
Ihr Magen verkrampfte sich bei dieser Erinnerung, die untrennbar mit einem Gefühl der Scham und der Demütigung verbunden war und von dem schrecklichen Bewusstsein beherrscht wurde, am Tod des Vogels die Schuld zu tragen. Doch wenn sie ganz ehrlich war, lag alldem eine ganz andere Empfindung zugrunde: grimmige Enttäuschung. Wie sollte sie weiter an etwas glauben, von dem sie niemanden überzeugen konnte?
Die folgenden Tage waren sonnig und windstill. Mabel beobachtete die Schneeengel genau – sie blieben unverändert schön. Mit jedem länger werdenden Tag glitzerten und glänzten sie unter dem blauen Himmel. Strahlte die Sonne hoch vom Firmament, fürchtete Mabel, die Engel könnten schmelzen, doch die Luft blieb kalt und der Schnee locker und trocken.
Erst am Sonntagmorgen begann der Wind vom Gletscher zu pfeifen. Mabel hörte ihn in Böen im Flusstal, sie sah, wie er die Baumwipfel in Bewegung versetzte und den Schnee von den Ästen stieß. Bitte, dachte Mabel. Bitte komm schnell. Komm und schau, und dann weißt du, dass es sie gibt.
Am Nachmittag blies der Wind so heftig, dass sie das Getrappel der Hufe im Hof überhörte. Dass Esther gekommen war, merkte Mabel erst, als die Tür aufflog und ihre Freundin ins Haus stolperte.
«Schau, wer da hereingeweht kommt!», rief Esther zur Begrüßung. Sie lachte ausgelassen und schlug die Tür wieder zu.
«Oh, Esther! Du bist da! Und das bei dem Wetter!»
«Ich hatte schon den halben Weg hinter mir, als es so schlimm wurde, und da dachte ich, ob hin oder zurück, das käme aufs Gleiche heraus. Also bin ich jetzt hier.»
«Ich bin so froh – warte! Lass den Mantel an, ich möchte dir etwas zeigen.» Mabel wickelte sich einen Schal ums Gesicht und zog eine Mütze tief in die Stirn.
Esther war für jedes Abenteuer zu haben, und so fragte sie nicht lange, sondern machte auf dem Absatz kehrt und folgte Mabel in den stürmischen Nachmittag
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