Das Schneemädchen (German Edition)
wunderhübsch, wenn sie im Frühling jeden freien Fleck im Wald besetzen. Und ich schicke noch ein Paar Stiefelchen für Sophies Neugeborenes mit. Der Fellbesatz stammt von einem Schneeschuhhasen, den ein Nachbarsjunge mir überlassen hat. Ich hoffe, sie erreichen Euch, bevor die Kleine am Ende schon herausgewachsen ist.
Ich nehme an, wir werden bald Schnee haben. Die Berge sind schon weiß, und morgens ist es empfindlich kühl. Ich sehe ihm froh entgegen.
Es grüßt Dich herzlich
Deine Dich liebende Schwester
Mabel
Kapitel 28
In den letzten Oktobertagen wurde es endgültig Winter. Keine gemächlich fallenden, nassen Flocken, die sanft das Ende des Herbstes kennzeichneten, sondern ein plötzlicher, kalter Sturmwind vom Fluss, der körnige Schneemassen heranwehte. Kurz nach dem Abendessen war es draußen schon pechschwarz, und Jack und Mabel lauschten dem Sturm, der an ihr Haus klopfte. Jack sah vom Ofen auf, wo er seine Stiefel einfettete, und Mabel hielt am Küchentisch mit Nähen inne. Das Klopfen kehrte wieder, immer lauter. Schließlich ging Jack zur Tür und öffnete sie.
Einen Augenblick war ihm, als stünde ein Berggeist vor ihm, eine blutbefleckte, schneebedeckte Erscheinung. Faina war größer und womöglich noch dünner als in seiner Erinnerung. Ihre Pelzmütze und der Wollmantel verschwanden fast gänzlich unter einer Lage Schnee, und ihre Haare hingen in feuchten, fransigen Strängen herab. Ihre Stirn war mit angetrocknetem Blut verschmiert. Jack stand sprachlos und wie erstarrt.
Das Mädchen zog die Mütze vom Kopf, schüttelte den Schnee ab und sah zu ihm auf.
Ich bin es. Faina.
Sie war ein wenig außer Atem, doch ihre feste, fröhliche Stimme brach den Bann. Jack nahm das Kind in die Arme, hielt es umfangen und wippte sacht auf den Fersen.
Faina? Faina. Mein Gott. Du bist da. Du bist wahrhaftig da.
Er war sich nicht sicher, ob er die Worte laut aussprach oder nur in Gedanken. Dann drückte er seinen Bart in ihre Haare und roch den Gletscherwind, der über die Wipfel der Fichten weht, und das Blut, das durch wilde Adern kreist, und um ein Haar gaben seine Knie nach. Einen Arm um ihre Schultern gelegt, zog er sie ins Haus und schloss die Tür.
Großer Gott, Mabel – ihm war bewusst, wie aufgewühlt er klang –, es ist Faina. Sie ist da.
Ach Kind. Ich habe mich schon gefragt, wann du wohl kommst.
Mabel, still und lächelnd. Wie konnte sie so seelenruhig dastehen, wenn er, ein erwachsener Mann, beim Anblick des Mädchens ins Wanken geriet? Warum brach sie nicht in Tränen aus, eilte zu dem Kind hin und sank ihm zu Füßen?
Mabel trat hinter Faina und wischte ihr den Schnee von den Schultern. Lass dich anschauen. Komm, lass dich anschauen.
Mabels Augen glitzerten, und ihre Wangen waren hochrot, doch weder kreischte sie auf, noch verfiel sie in wildes Schluchzen. Faina knöpfte ihren Mantel auf, und Mabel half ihr heraus, schüttelte den Schnee ab.
So. Wollen wir doch mal sehen.
Sie hielt das Mädchen auf Armeslänge von sich.
Du bist gewachsen, das habe ich mir schon gedacht.
Gewachsen? Mabel musste den Verstand verloren haben. Kein Wort über das Blut, über das Schreckensbild, das das Kind abgab, kein Wort über die langen Monate, in denen es fort gewesen war.
Jack legte dem Mädchen einen Finger unters Kinn und wandte ihr Gesicht zu sich hoch.
Was ist mit dir passiert, Faina? Geht es dir gut?
Ach, das?
Das Mädchen sah auf ihre Hände.
Ich habe Kaninchen gehäutet, sagte sie.
Die Augen weit aufgerissen, erwartungsvoll.
Ich bin da, sagte sie. Ich bin zurückgekommen.
Natürlich bist du das. Ja natürlich, sagte Mabel leichthin, als habe es daran nie einen Zweifel gegeben.
Wie … Doch weiter kam Jack nicht, denn Mabel führte das Mädchen zum Tisch.
Ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, sagte sie. Deswegen habe ich mich so beeilt. Gerade heute Abend bin ich fertig geworden. Aber nein, halt. Damit hat es noch Zeit. Du musst dich erst einmal waschen und ein bisschen zur Ruhe kommen, nicht wahr?
Faina lächelte und hielt Mabel die Hände hin. Sie waren wund von der Kälte und über und über besudelt, jeden Fingernagel zierte eine Blutkruste, doch Mabel ließ nur ein Glucksen hören wie eine Hennenmutter – als handle es sich lediglich um ein bisschen Schmutz, wie er einem Jungen anhaftet, der im Dreck gespielt hat. Sie legte ihre Näharbeit auf einen Stuhl.
Dann wollen wir doch mal sehen, sagte sie. Ich habe vorhin Wasser für Tee aufgesetzt. Es müsste zum
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