Das schönste Wort der Welt
Irgendwann hat er mich gebeten, den Mund
aufzumachen, er wollte den Zustand meines Gebisses prüfen, denn der Zahnarzt
hatte ihm erzählt, Karies sei erblich. Ich öffnete den Mund und schloss ihn
gleich wieder. Lass
mich in Ruhe ,
sagte ich, ich bin
doch kein Pferd .
Dann fragte er mich nach seinem Vater, allerdings nur, um herauszubekommen, was
für Zähne er hatte.
Jetzt schläft er. Aus
seinem leicht geöffneten Mund dringt ein Pfeifen, ein nach Zahncreme duftender
Windhauch. Er schläft mit nacktem Oberkörper, seine Brustwarzen sind leicht
geschwollen, pubertäre Mastitis, hat der Arzt gesagt.
Ich
kriege jetzt doch wohl keinen Busen?
Auch der Arzt musste
lachen, Der
Junge ist gut, so einen netten Kerl findet man nicht oft heutzutage . Tja, alle Welt findet ihn nett, er
hat Humor, und er setzt eher sich herab als andere. Nur bei mir ist er ein
Mistkerl.
Pietro.
Es mag am Grappa
liegen, doch heute Nacht genügt schon sein Name, um mich zum Weinen zu bringen.
Heute Nacht gehört
nicht viel dazu, sich von einem Namen aushöhlen zu lassen.
Das Fensterbrett ist
breit, Platz genug, um sich darauf zu setzen und ein wenig die Beine zu
strecken. Ich klebe an der Scheibe. Giuliano hat angerufen, er hatte die
heisere Stimme eines Menschen, der still war und nachgedacht hat.
»Ich habe dir jede
Menge Nachrichten geschrieben«, die Kehle verschlissen von Müdigkeit, von
Angst. »Du scheinst mir weit weg zu sein.«
»Ich bin weit weg.«
Ich sehe unsere
Wohnung vor mir. Den Kalender der Carabinieri an der Flurwand, den Salat, den
ich für Giuliano in den Kühlschrank gestellt habe, den Zettel für die Putzfrau
und das Schwämmchen, mit dem ich mich abschminke.
Heute Abend habe ich
mich nicht abgeschminkt, ich verschmiere mir die Augen, schicke die
Wimperntusche in den Augenhöhlen auf Wanderschaft.
Pietro schläft. Die
Wimpern im Weiß der geschlossenen Lider wie eine Reihe kahler Bäume im Schnee …
Land, zerteilt von einem Graben.
Ich gehe vom Fenster
weg, trete barfuß in den Flur hinaus und gehe in die Hotelhalle hinunter. Dort sind
rauchende und trinkende Männer, in diesem Hotel sind immer Männer, die rauchen
und trinken. Sie mustern mich, wollen mich auf ein Glas einladen. Ich bitte sie
um eine Zigarette, sie geben mir zwei. Drina, ach ja, die alten Drina. Ich
rauche seit Jahren nicht mehr, doch heute Abend, barfuß auf dem Gehweg, rauche
ich, denn ich brauche etwas, das mir in den Bauch fährt und brennt.
Jemand kommt vorbei,
ein Mann, der an einer Mülltonne stehen bleibt, ein armer Schlucker, der nach
ein paar Resten herumstochert, die noch schmecken, nach Abfall, der die Mühe
lohnt. Wie ich, im Grunde.
Es war Gojko
Es war Gojko, der
mich in diese Kneipe brachte.
Wir sind den ganzen
Tag gelaufen, von Bistrik nach Nedžarići,
trotzdem lasse ich mich noch weiterziehen. Nebel ist aufgestiegen und umtanzt
uns, die Miljacka weiter unten sieht aus wie Frauenmilch, Kolostrum. Es ist
meine letzte Nacht in Sarajevo.
Italien hat im
Rennrodeln gewonnen, man feiert die Medaille. Viele tanzen auf dem Tisch, den
Mund unentwegt an der Šljivovica-Flasche,
Sportreporter und Athleten, die in ihren Unterkünften im Olympischen Dorf von
Mojmilo längst im Bettchen liegen müssten.
»Komm, ich stelle dir
die Italiener vor.«
Ich zwänge mich
zwischen die Ellbogen fremder Leute, zwischen rauchverschmierte Augen und
sonnenverbrannte Gesichter. Die Kneipe ist ein Stollen mit niedrigen Bögen, aus
denen ausgestopfte Köpfe hervorbrechen, Braunbären und Gämsen, vom
Deckengewölbe hängen schiefe Stofffähnchen. Ich sitze unter Ostdeutschland.
Er ist nicht da, hat sich
schon von seinen Freunden verabschiedet und ist gegangen. Er sucht an der mit
Anoraks und schneegefleckten Wintermänteln beladenen Garderobe nach seinen
Sachen, kann sie nicht finden und kommt deshalb zurück, um das Mädchen für die
Mäntel zu suchen, die kleine Dralle mit dem Kraushaar, die sich gerade ein Bier
holt und die Garderobe unbeaufsichtigt gelassen hat. Deshalb kommt er zurück.
Er steht da und wartet, bis sie ihr Bier ausgetrunken hat.
Ein Rücken, ein
bunter Pullover aus Alpakawolle über einem langen, mageren Rücken. Gojko ruft
ihn: »He, Diego!«
Er dreht sich um und
greift sich in den Nacken, in seinem hohlwangigen Kindergesicht sitzt ein
spärliches Bärtchen. Später erzählte er mir, dass es in seinem Kopf gehämmert
habe und seine Augen sich von den Schneeböen, die er im Laufe des Tages
abbekommen hatte, wie zwei glühende
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