Das schönste Wort der Welt
schneematschverschmierter Stiefel; in Läden, wo
Frauen weißen Pitateig auf Bleche, groß wie Schutzschilde, auftrugen, während
alte Männer mit einem roten Fes auf dem Kopf an der Tür saßen und würfelten. Er
kannte praktisch jeden, und jeder schien ihn zu lieben. Ich ging hinter seinem
Zopf her wie hinter dem krummen Schwanz eines räudigen Straßenkaters.
Eines Abends sagt er
mir eines seiner Gedichte auf.
Halte den Mund, mein Junge,
bis zu dem Tag, da dir jemand
befiehlt,
ihn
zu
halten.
Dann
aber lehne dich auf und sprich.
Sag
ihm, du bist jung und ohne Geduld,
und der
Mond ist gelb wie die Sonne.
Deine
Mutter ist eine gute Frau,
doch
sie ist fortgegangen,
und
dein Hund frisst seit zwei Tagen nicht mehr.
Sag
ihm, die Straßen sind vollkommen leer,
alle
sind schlafen gegangen,
und du
möchtest singen,
bevor
die alte Anela aufsteht
und
einer verrückten Henne den Hals umdreht,
die
keine Eier mehr legt
und
kräht wie ein Hahn.
»Wie findest du das?«
Ich spiele mit seinem
Jo-Jo. Kämpfe verbissen mit dieser albernen Spielerei, die mir nicht gelingen
will.
»Wer ist die
verrückte Henne?«
»Sarajevo.«
»Interessant.«
Er nimmt sich sein
Jo-Jo wieder, er braucht es: Er ist nervös. Ich kann sowieso nicht damit
umgehen, und er hält es nicht aus, mir bei dieser Stümperei zuzusehen. Er sagt,
wenn mir seine Gedichte nicht gefielen, könne ich ihm das ruhig sagen. Sagt,
ich sei eine verdammte Karrierekuh, ich würde als Literaturkritikerin enden und
junge Talente abwürgen, weil ich eine blöde, gefühlskalte Oberlehrerin sei,
eine Zecke, die anderen das Blut aussaugt.
Wir schlendern am
Ufer der Miljacka entlang, Gojko zeigt mit den Händen fuchtelnd auf einen
armseligen winterlichen Zweig.
»Jedes dieser Blätter
schwingt mehr als du!«
»Blätter fallen«,
lache ich höhnisch.
»Wie die Dichter! Sie
düngen die Erde vor der Zeit!«
Er hat die
verschleimten Augen eines rebellischen Bären, dazu die übliche Schnapsfahne.
Mir platzt der
Kragen. Ich sage ihm, er solle duschen und aufhören, nach Grappa zu stinken, denn
die Welt sei voll von großen Dichtern, die langlebig, maßvoll und pieksauber
seien. Er ist eingeschnappt, sieht mich an wie ein kleines Kind. Sagt, er habe
sich in seinem ganzen Leben noch nie volllaufen lassen und seine Haare sähen
nur deswegen so fettig aus, weil er ein Gel verwende, sagt, wenn ich Kinder
haben wolle, müsse ich Jo-Jo spielen lernen, die Kleinen seien ganz verrückt
danach.
So gibt er mir
Unterricht. Eine Hand auf meiner, damit ich das Spiel des Handgelenks spüre,
das Schnurren des Fadens, den Ruck, mit dem man ihn in seiner magischen Spule
wieder aufrollt.
An jenem Abend sagte
er beim Abschied zu mir Volim te iskreno .
»Was heißt das?«
»Ich liebe dich von
ganzem Herzen.«
Ich trat einen
Schritt zurück, einen kleinen Schritt zurück in meinen Schritten. Gojko sagte
nun nichts mehr, er knetete mit dem Daumen seine Nase, als wäre sie aus
Plastilin. Auf der Schwelle blieb er stehen.
»Das sage ich, wenn
ich meiner Mutter eine gute Nacht wünsche.«
Ich sah ihn auf einer
zugefrorenen Pfütze schlittern, bevor er verschwand.
Jetzt ist er hier, an
diesem milden Abend, die Ellbogen auf einer Plastiktischdecke in dieser vom
Schmerz angegriffenen Stadt, die nun schweigt, auf dem Boden altes Papier,
Zigarettenkippen und die Schritte von Leuten, die nach Hause gehen. Eine
ausgetrunkene, ausgekostete Flasche Wein, wohltuende Normalität.
Und diese Normalität
ist ein Wunder, diese Baklava, die wir uns nun teilen, dieser süße, weiche
Kuchen aus Nüssen und Blätterteig. Unsere Teelöffel treffen sich auf dem Teller.
»Iss du das letzte
Stück.«
Pietro saugt den Rest
aus seiner Coca-Cola-Büchse, er schlürft laut. Er hält sich nicht schlecht, hat
sich mit Gojko über Tennis unterhalten und ist aufgestanden, um ihm die Vorhand
von Federer zu zeigen. Jetzt will er ein Eis, doch es gibt nur bosnische
Süßigkeiten. Gojko streckt einen Arm ins Dunkel und zeigt ihm ein Stück weiter
eine Eisdiele.
»Wie sagt man für Eis ?«
» Sladoled .«
»Und die Sorten?«
» Čokolada, vanila, pistaci, limun … «
»Verstehen sie es,
wenn ich ice
cream sage?«
Gojko nickt, lächelt
ihn an, schaut ihm nach.
»Netter Junge.«
Ich spähe in die
Richtung, in der Pietro verschwunden ist, und schon spüre ich eine Leere, wie
jedes Mal, wenn er mir aus den Augen geht.
»Er ist wie sein
Vater, genauso.«
Gojko sitzt mit offenem
Mund da, ein schwarzes O,
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