Das schönste Wort der Welt
dem
Boden gelegen, das Kinn in den Schnee gerammt, um die Spritzer der Bobs zu
erwischen und die Schanzensprünge bei der nordischen Kombination. Er sagt, er habe
sich die Augen versaut.
»Konntest du denn
keine Brille aufsetzen?«
Er lacht, sagt, das
sei wie Sex, ohne sich auszuziehen, das Auge müsse förmlich im Objektiv sein.
Er sieht mich an. Ich
lasse mich von seinem besonderen Auge erforschen.
»Meinst du, ich bin
fotogen?«
Ich neige den Kopf
und zeige ihm meine beste Seite, wie ein Teenager.
»Hast du einen
Freund?«
Ich bin drauf und
dran zu heiraten. Doch das sage ich ihm nicht. Ich sage, dass ich seit Jahren
eine Beziehung habe.
»Und du?«
Er breitet die Arme aus,
lächelt.
»Ich bin frei.«
Der Brunnen der
Reisenden, der Sebilj, ist zugefroren, wir setzen uns auf den Rand, ein
kleiner, froststarrer Vogel läuft auf dem Eis. Er lässt sich fangen. Diego hält
ihn in den Händen, nähert sich mit dem Mund und haucht ihm etwas Wärme ein.
»Komm mit mir.«
»Wohin?«
»Nach Brasilien, die
Kinder in den roten Minen von Cumaru fotografieren.«
Gojko bricht zwischen
den Marktständen hervor, als hätte er dort auf uns gewartet, mit seiner
Felljacke und seiner brennenden Zigarette.
»Ich habe der
Signorina versprochen, sie auf den Berg zu führen, damit wir aus Andrićs Fenster auf Sarajevo runterschauen
können.«
»Und wer soll dieser Andrić sein?«
»Ein Dichter, aber
keine Bange, Gemma mag keine bosnischen Dichter, sie stinken und saufen.«
Seine Anwesenheit
bewahrt mich vor Verlegenheit, diesem Stachel der Emotionen. Wir können so tun,
als wären wir drei Freunde auf einem Spaziergang, drei harmlose Geschwister.
Der eisige Wind
schüttelt die toten Bäume, Böen von Schneeregen versengen uns das Gesicht und
verfangen sich in unserem Haar.
Wir schauen auf die
Stadt hinunter, auf die dürren Minarettspitzen zwischen den schneebeladenen
Dächern. Sarajevo sieht jetzt aus wie eine liegende Frau, die Straßen sind
Kerben im Kleid einer Braut.
Ich habe mein
Brautkleid schon ausgesucht. Eine Spindel aus Seide, steif wie eine Callablüte,
eine Blume ohne Bewegung.
Die Nacht vergeht,
die elektrischen Lichter tanzen im Morgengrauen wie Kerzen auf dem Meer.
Gojko breitet die
Arme aus und schreit auf Deutsch:
» Das ist Walter! «
»Wer ist Walter?«
»Die Hauptfigur eines
Propagandafilms, den sie uns in der Schule gezeigt haben, ein Partisanenheld,
den die Deutschen die ganze Zeit erfolglos jagen. Am Ende des Films schaut der SS -Offizier besiegt auf Sarajevo hinunter
und sagt: ›Jetzt weiß ich, wer Walter ist! Das ist Walter! Er ist diese ganze
Stadt, der Geist von Sarajevo.‹ Ein schöner Scheiß, aber er hat uns zu Tränen gerührt.«
Wir setzen uns unter
dem Dach des alten Bahnhofs auf den Boden. Gojko zieht eine Flasche Grappa aus
seiner Jacke.
»Die Signorina
zuerst.«
Ich trinke einen
Schluck, in der Eiseskälte wirkt er wie Lava. Dann ist Diego an der Reihe. Er
schaut mich an, während er die Flasche dort ansetzt, wo eben noch meine Lippen
waren. Das ist die erste erotische Regung zwischen uns. Es ist kalt, doch ich
schwitze, Klebstoff, der sich auf meinem Rücken ausbreitet.
»Schade.«
»Was denn?«
»Dass ich meine
Kamera nicht dabeihabe.«
Er hätte mich gern im
Spiegelbild der zugefrorenen Pfütze zwischen den Gleisen fotografiert.
Gojko stürzt den Rest
der Flasche runter wie Wasser, dann wirft er sie in den Schnee. Er faselt mit
bröckelnder Stimme vor sich hin, redet von der Zukunft, von den Gedichten, die
er schreiben wird, und von dem neuen Spielzeug, das er importieren will, dem
Zauberwürfel. Ein Knobelspielzeug, das ihn steinreich machen soll. Wir lassen
ihn weiterbrabbeln wie ein nächtliches Radio, wie ein Brummen. Ab und zu macht
Diego irgendeine Bemerkung, um vorzutäuschen, wir wären zu dritt. Gojko zündet sich
noch eine Zigarette an. Diego knufft ihn mit dem Ellbogen. »Pass auf mit dem
Feuerzeug, du bist so abgefüllt mit Grappa, dass wir alle in die Luft fliegen,
wenn du rülpst.«
Gojko gratuliert ihm.
»Endlich hast du ein
bisschen bosnischen Humor abgekriegt.«
Ich lache, obwohl
meine Kiefer vor Kälte erstarrt sind. Gojko sieht mich an, und ich merke, dass
er sauer auf mich ist. Er schüttelt den Kopf, schickt uns mit einer weichen
Geste zum Teufel und dreht sich im Schnee auf die Seite. »Sagt mir Bescheid, wenn
ihr mit dem Geturtel fertig seid.«
Er ist
niedergeschmettert, lässt uns aber nicht allein, er bleibt da wie ein
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