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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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lässt
meine Zähne aufeinanderschlagen.
    Ich sehe das Kind in
seinem himmelblauen Fluidum. Halte seine Hand. Lasse den Blick über seinen
ganzen Körper schweifen, über einen Ellbogen, über die blauen Flecke zwischen
dem zarten Flaum an seinen Waden.
    Was gibt es noch nach
einem toten Kind?
    Nichts, glaube ich,
nur die dumpfe Replik unserer selbst.
    Das Kind liegt da mit
seinem Kinderhaar, dieser Pelzkappe, die noch den Geruch nach Leben verströmt.
Mit den in sich gekehrten Augen der Heiligen, der Märtyrer, die sich
zurückziehen. Die Haut der Augenlider ist durchscheinend, die Augen schimmern
darunter hervor wie Weintrauben, sie sind nicht ganz geschlossen, zwischen den
Wimpern ist ein Spalt offen geblieben. Ein Weg. Wie ein dunkler Pfad in
frischem Schnee.
    Ich nehme das Kind
bei der Hand und mache mich mit ihm auf den Weg. Wozu bist du geboren? , frage ich es.
    Velida kommt zu mir.
    »Wir können jetzt
gehen.«
    Dann sieht auch sie
das Kind, und ihre Hand fährt zum Mund. »Wessen ist das?«, flüstert sie.
    »Ich weiß es nicht.«
    Sie schaut sich um,
als suchte sie etwas oder jemanden … einen Grund für das alles. Auch sie hat
keine Kinder, wir sind zwei unnütze Frauen, zwei Fahrräder ohne Kette.
    »Es ist das Kind des
Krieges«, sage ich und weiß nicht, was ich da rede, was ich denke, weiß nicht,
was aus mir geworden ist.
    Wir sind allein in
einem Feld von Toten. Da liegt ein blaues Kind, das ich nie mehr vergessen
werde. Nicht ich hätte heute hier sein sollen, nicht ich hätte es heute trösten
sollen, ihm die Hand halten sollen. Es war Zufall.
    Wir gehen zum
Ausgang. Die Maske mit dem Desinfektionsmittel bewahrt mich vor dem Geruch. Ich
darf mich nicht mehr umdrehen. Wir gehen durch die Dunkelheit, durch das
Gerippe der Stadt.
    In der Nacht muss ich
an die Schnecken denken, an ihre kleinen, glitschigen Körper und an die
lachende Kinderschar, die ich vom Fenster aus gesehen habe und die dieses nach
dem Regen gekommene Manna auflas. Ich muss an Jovans rote Weste denken, an
seine Brust mit dem galoppierenden Katarrh, ich höre das Geräusch in dieser
Brust, als wäre ich selbst darin, wie im Maschinenraum eines Schiffes. Ich muss
an die schlafwandlerischen Augen des blauen Kindes denken, an diesen Weg
zwischen den Wimpern, dünn und klebrig. Den kriecht eine Schnecke entlang, sie
überquert die Straße, langsam wie Jovan, dieser alte Mann, der in einen Mantel
gehüllt ist, der glänzt wie die Haut einer Schnecke. Er ist es, der mit dem
Kind die Lebenslinie überschreitet.
    Später geht auch
Diego in die Leichenhalle, um Abschied von Jovan zu nehmen.
    »Ich habe ihm eine
Zigarette in die Brusttasche gesteckt«, sagt er lächelnd. »Die kann er auf
seiner Reise rauchen.«
    Ich betrachte seinen
Rücken, seine geronnenen Haare. Als er nach Hause kam, hat er eine Schnecke
zertreten, sie saß auf der Türschwelle. Er hörte, wie ihr Haus unter seinem Fuß
zersplitterte. Es hat ihm leidgetan, dass er sie getötet hat, er sagt, inzwischen
tue ihm alles leid, weil es ihm so vorkomme, als stecke jedes Leben in einem
anderen. Und nun sei das ein Labyrinth.
    »Hast du das Kind
gesehen?«
    »Was für ein Kind?«
    »Das blaue Kind,
neben Jovan.«
    Er sagt, da sei kein
Kind gewesen, als er dort war. Kein Kind.
    »Der Leichnam nebenan
… nach der leeren Bahre«, bohre ich weiter.
    Er zuckt mit den
Schultern. Dreht sich zu mir.
    »Wieso, was war denn
mit diesem Kind?«
    Ich möchte ihm alles
sagen, aber ich kann ihm überhaupt nichts sagen.
    »Es war tot«, sage
ich.
    Ich gehe durch den
Schlamm der Tränen, ertrinke im Spalt jener nicht ganz geschlossenen Augen, die
jetzt wohl schon begraben sind, mit Erde verklebt wie eine zertretene Schnecke.
Nie wieder werde ich so weinen, auch nicht, falls ich allein zurückbleiben
sollte. An dem Tag werde ich so stark sein wie eine bosnische Witwe, wie
Velida.
    Beim Anblick des
Kindes sagte sie: »Ehemänner dürfen sterben, Kinder nicht.«
    Und ihr Schmerz zog
sich zusammen wie die Schnecken im Kochtopf.
    Daran werde ich mich
dann vielleicht erinnern.
    Doch heute Nacht
beweine ich alles, auch das, was noch kommt. Das, was ich auf dem schwarzen Weg
dieser halb geöffneten Augen gesehen habe.
    Dann beruhige ich
mich, doch ich bin nicht mehr dieselbe. Ich bin das, was nach einem Orkan am
Strand zurückbleibt, ein stilles Feld nach der Zerstörung. Aus dem etwas
aufragt, wie ein umgefahrenes Straßenschild.
    »Weißt du, wie dieses
Kind aussah? Erinnerst du dich noch an

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