Das schönste Wort der Welt
Schnecken
abgewartet. Dieses Essen hatte ihm Kraft gegeben. Mit dieser kurzlebigen Kraft
war er aus dem Haus gegangen und hatte sich von dem verabschiedet, was von
seiner Heimatstadt noch übrig war.
Wir kommen ins Koševo-Krankenhaus. In der Leichenhalle
herrscht ein unverkennbarer Geruch, beißend und süßlich. Wir gehen am Leichnam
eines Mädchens in Jeans und ohne Arme vorbei, dann an einem verkohlten Mann,
die Haut schwarz, auf den Knochen seines Schädels zusammengeschrumpft, die
Zähne bloßgelegt. Zum Schutz vor diesem Geruch hat man uns eine mit
Desinfektionsmitteln getränkte Maske gegeben. Velida hat sie nicht aufgesetzt,
sie scheint überhaupt nichts zu spüren.
Jovan ist unversehrt.
Das ist er, ganz und gar er, dasselbe Gesicht wie vor wenigen Stunden, als wir
die Schnecken aßen. Der Tod hat ihn nicht beschmutzt. Der uns begleitende Arzt
erklärt, dass er im Nacken getroffen worden sei und die Kugel an einem Ohr
wieder ausgetreten sei, er zeigt uns ein kleines, blaubeerfarbenes Loch. Velida
nickt. Da ist nichts Hässliches. Auch seine Kleidung ist in Ordnung. Der Arzt
geht, wir bleiben mit all den Toten allein. Ich denke Das ist Fleisch, das nicht mehr leidet . Ich denke, dass nach diesem Abgrund
nichts mehr kommt. Dass ich sofort aufhören muss zu leiden, weil man hier
drinnen eben aufhört zu leiden. Man senkt den Kopf. Velida beugt sich hinunter und
küsst Jovan auf den Mund. Sie verharrt lange so, eins mit dem Gesicht ihres
Mannes, dessen vertraute Augen geschlossen sind. Als sie sich wieder
aufrichtet, weint sie nicht, doch ihre Lippen sind so dunkel und tot wie die
von Jovan.
Da sehe ich das Kind,
es ist der nächste Leichnam nach einer leeren Bahre. Es ist ein blaues Kind.
Ja, es hat die leicht himmelblaue Blässe der Heiligen in der Kirche. Es ist
ordentlich aufgebahrt, kein Blut im Gesicht, und es hat die Sorte Haare, die
nie zerzaust, kräftig, kurzgeschnitten, wie eine Pelzkappe, sie wirken so
lebendig, dass ich ihren Geruch zu spüren meine, den Geruch der leicht
verschwitzten Kopfhaut, den eines Kindes, das gespielt hat. Dieses Kind ist
eine blaue Eidechse. Ein kleiner Heiliger. Es kann erst vor kurzer Zeit
gestorben sein, vor ganz kurzer Zeit. Ich gehe zu ihm, um es mir anzusehen,
niemand ist bei ihm. Velida spricht mit Jovan, sie nimmt Abschied von ihm.
Erinnert sich an ihre besten Augenblicke. So habe ich Zeit, mich an diesem
absurden Ort ein wenig umzuschauen. Außerhalb jeder Realität. Im Hinterzimmer
des Krieges, Leichen aufgehäuft wie kaputtes Spielzeug. Das Kind trägt einen
gestreiften Pullover. Ich betrachte seine leicht geöffnete, wie im Schlaf
entspannte Hand. Die Unschuld, die sich dem Tod beugt. Ich betrachte die Fingernägel,
wo nach meinem Gefühl die Seele zurückgeblieben ist. Ich sollte rausgehen, denn
ich spüre, dass ich diesen Anblick wohl nie mehr loswerde, dass dieses Kind ein
Teil von mir sein wird und mich erst wieder verlässt, wenn auch ich sterbe. Es wird
das Letzte sein, was ich sehe, und das Erste, was ich erreichen möchte, später,
wenn ich im himmelblauen Flug der Seelen die Fingernägel dieses Kindes suche.
Ich frage mich nicht, wo seine Mutter ist, warum sie nicht hier ist und weint,
vielleicht ist auch sie tot. Jetzt bin ich die Mutter dieses Kindes, ich greife
nach seiner Hand. Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte. Doch ich habe das
Gefühl, dass ich es tun darf. Niemand ist da, um neben dem Leichnam des Kindes
zu trauern, um nach ihm zu rufen. Es ist gerade erst gestorben, es scheint noch
zu leben. Es scheint, als könnte es hochschnellen, seine Augen auf mich heften
und flink wie eine Maus davonlaufen, entsetzt darüber, sich hier an diesem Ort
zu befinden.
Ich würde mich jetzt
zu gern um die Mächtigen dieser Welt kümmern, um die Männer in Anzug und
Krawatte rings um den Tisch des falschen Friedens. Auf diesen Tisch sollte man
das blaue Kind legen. Sie müssten in diesem Raum eingesperrt bleiben, sich
nicht wegrühren können. Dort bleiben. Dem Tod zusehen, wie er sein systematisches
Werk verrichtet und das Kind von innen zerfrisst. Man müsste Häppchen,
Zigaretten und Mineralwasser reichen und sie dort festhalten, während sich das
Kind auflöst und bis auf die Knochen zerfällt. Tag für Tag. All die Tage, die
das braucht. Genau das würde ich gern tun.
Nun weiß ich, dass
ich vor diesem toten Kind zur Mutter geworden bin. Mein Becken hat sich
geweitet, und es hat in dieser Leichenhalle eine Entbindung gegeben.
Die Rebellion
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