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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Brennnesseln zerschnitt und sich der Duft der
Schneckenmahlzeit endgültig verflüchtigt hatte, ging Jovan aus dem Haus.
    Seit Monaten war er
nicht mehr weggegangen. Er kleidete sich akkurat, mit einer Wollweste, einer
breiten Krawatte und seiner alten Kippa auf dem Kopf. Er nahm die Tasche aus
seiner Zeit als Dozent und sagte, er wolle mal eine Runde drehen, er fühle sich
gut.
    Unwirkliche Worte in
dieser Geisterstadt, in dieser Wohnung ohne Licht, ohne Fensterscheiben, ohne
die guten Möbel, die verkauft worden waren, und ohne die schlechten Möbel, die
zu Brennholz zerhackt worden waren.
    »Wo willst du denn
hin, Jovan?«
    »Ich gehe zur
Universität.«
    Velida hatte nicht
den Mut gehabt, ihn zurückzuhalten, sie hatte den Willen ihres Mannes stets
respektiert, und dies war ihres Erachtens gewiss nicht der Zeitpunkt, ihn wie
einen unmündigen Menschen zu behandeln. Sie hatte nur versucht, ihm zu
erklären, dass die Universität wie alle wichtigen Gebäude der Stadt getroffen
worden sei, und Jovan hatte genickt.
    »Ich will sehen, ob
man was tun kann.«
    »Das ist gefährlich.«
    Er hatte ein Lächeln
und ein altes jüdisches Sprichwort hervorgekramt.
    Wenn es
einem Menschen bestimmt ist, zu ertrinken, wird er das auch in einem Wasserglas
tun .
    Velida klopfte zu
spät an meine Tür, erst als es schon dunkel war, schon die Sperrstunde, und
Jovan bereits seit vielen Stunden weg war. Sie weinte nicht, doch ihr Kopf
wackelte stärker als sonst.
    Sie war besorgt, aber
immer noch voller Mut. Er hatte das Richtige getan.
    Der alte Jovan, der
serbische Jude aus Sarajevo, Biologe und Süßwasserspezialist, der sein Leben
lang die Evolution von Borstenwürmern und einzelligen Geißelalgen erforscht
hatte, war heute, an einem Tag Mitte November, nach einer guten
Schneckenmahlzeit und zwei Gläsern Schnaps, der aus dem Reis der Hilfspakete
selbstgebrannt war, aus dem Haus gegangen, um einen Blick auf das Elend seiner
Heimatstadt zu werfen, auf die Zerstörung seiner Spezies, der friedlichen Spezies
von Moslems, Serben, Kroaten und Juden in Sarajevo.
    Die Dunkelheit
verschluckte Velidas von Erinnerungen überflutetes Gesicht. Sie bereute nichts.
Da Jovan den Wunsch gehabt hatte zu gehen, war das richtig so.
    »Wir sind nie brutal
zueinander gewesen, wir sind ein friedliches Paar.«
    Velida nickte, als
die Nachricht kam; überbracht hatte sie ein Taxifahrer, einer jener Helden der
Stadt, die sich mit offenen Autotüren auf die schrecklichsten Kreuzungen
trauten, um die Verwundeten fortzuschaffen. Ein hochgewachsener Mann mit einem
schönen, von den Mühen des Krieges rauen Gesicht. Er breitete die Arme aus und
schloss sie dann über der Brust wie ein Moslem, er neigte den Kopf.
    Jovan hatte es auf
der Brücke der Brüderlichkeit und Einheit erwischt, er war ruhig auf die
Heckenschützen von Grbavica zugegangen. So etwas taten Leute, die wie er zu
müde oder zu stolz waren. Er hatte beschlossen, aufrecht zu sterben. Seinem
Sniper entgegenzugehen wie einem Engel.
    Velida weinte in der
Kehle, kleine Schlucke eines unermesslichen Schmerzes, dann kurze
Atemstillstände. So begrub sie fünfzig Jahre Leben mit Jovan. Ich hielt ihre
Hand fest, nur ihre Hand. Sie war eine starke, würdevolle Witwe, wie die Frau eines
Kriegers. In der leeren Küche war nichts als dieses Schlucken zu hören, wie das
Kollern eines Truthahns. Vor ein paar Tagen ein Streit, einer der wenigen in
all den gemeinsamen Jahren. Jovan hatte darauf bestanden, dass Velida das
Mikroskop, die Bücher und sämtliche Geräte seines wissenschaftlichen Labors
verkaufte. Doch sie wollte partout nichts davon wissen, sie hatte ihren
Goldschmuck und das bisschen Tafelsilber weggegeben, hatte ihre Schuhe und ihre
Bücher verbrannt, um den Ofen in Gang zu halten, doch Jovans Sachen wollte sie
nicht verkaufen.
    »Ich konnte ihm doch nicht
sein Leben wegnehmen.«
    Darum hatte er sich
selbst gekümmert. Was blieb, war sein abgenutzter Sessel und seine abgetragene
Strickjacke, die ihn in den vielen im Labor verbrachten Nächten gewärmt hatte.
    Ich glaube, er wollte
Velida ganz einfach entlasten. Ohne ihn konnte sie weggehen, das Mikroskop
verkaufen und sich in Sicherheit bringen. Er wusste, dass er den Winter ohnehin
nicht überstehen würde, er war zu geschwächt. Sein Husten klang mittlerweile
so, als splitterte er von einem Krater ab. Jovan hatte keine Lust, dazusitzen
und auf das Ende zu warten, in der Düsternis der UNPROFOR -Planen. Er hatte den Regen und die

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