Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
Vom Netzwerk:
spricht, ist Leben in seinen Augen … als er mir erzählt, wie schwer es ihm
fiel, sich von diesem Körper, von diesem Nacken zu lösen.
    Es ist leicht, sich
an das Leben zu klammern, wenn es draußen Granaten hagelt.
    Und unser Leben, wo
ist das hin?
    Weit, weit weg, es
hat keinen Sinn, sich was vorzumachen. Wir sind schon sterbend nach Kroatien
und in die Ukraine gefahren … Auf dem Belgrader Flughafen haben wir Halt gemacht
und sind zurückgekehrt, um in Sarajevo zu sterben, in der Stadt, in der wir
geboren wurden.
    Der Kopf der
Schaufensterpuppe steht auf dem Tisch und sieht uns mit weit offenen,
geschminkten Augen an.
    Wir suchten einen
Körper als Stütze, ein Stück Holz im Bett unseres zum Teufel gehenden Flusses,
das uns ans andere Ufer bringen sollte. Aber er ist nicht wie ich, er schafft
es nicht, andere auszunutzen, er ist ein dummer Junge, einer, der sich verliebt.
    Er wusste nicht, dass
sie schwanger ist, sie hat ihn nicht gesucht. Er hat es erst erfahren, als er
nach Sarajevo zurückkam.
    Er wirft einen Blick
auf den abgerissenen Kopf, der ihm wie der von Aska erscheinen muss. Auch sie
lebt so, abgetrennt von ihrem Körper.
    Sie hat diese
Geschichte sofort bereut, ist wütend und deprimiert. In ihrem Dorf, in Sokolac,
hat man ihre Familie ausgerottet, jetzt fühlt sie sich schuldig, glaubt, Gott
habe sie bestraft.
    Diego streichelt
diesen Kopf, die aufgerissenen Augen, in denen ein Weinen schimmert, das nicht
ausbricht, es ist festgeklebt.
    »Liebst du sie?«
    »Wie könnte ich sie
nicht lieben?«
    »Und was ist mit mir?«
    »Du bist du.«
    Wer bin ich? Die auf
dem Foto des Presseausweises. Ich muss weg, muss mich zum UNO -Kommando durchschlagen, indem ich
meinen Ausweis zücke, und muss mich in eines der Flugzeuge setzen, die nicht
einmal mehr die Motoren abschalten, sie laden Arzneimittel auf der Rollbahn von
Butmir ab und fliegen sofort wieder los. Doch ich bleibe. Wie könnte ich denn
abreisen? Filme fallen auf den Boden, keiner hebt sie auf. Überall liegen
Fotografen auf der Lauer, an den gefährlichsten Kreuzungen, sie warten auf den
wandelnden Leichnam, auf die Frau, die zu ihrer Familie laufen will und
getroffen wird. Sie sind die Schnappschussjäger. Sie warten auf das Foto, das
ihnen einen Preis einbringt.
    Aus den Bergen
sickern haarsträubende Geschichten zu Tal. An den Wochenenden gesellen sich
merkwürdige Freiwillige zu den Tschetniks. Leute aus dem Ausland, die sich
amüsieren wollen. Scharfschützen, die die Nase voll haben von Simulationen und
Pappfiguren.
    Sarajevo ist ein
großer Schießplatz unter freiem Himmel. Ein Jagdrevier.

Nach dem Regen kommen die Schnecken
    Nach dem Regen kommen
die Schnecken, sie strecken ihre schleimigen, knochenlosen Körper aus ihrem
dünnen Haus heraus und kriechen los. Nach dem Regen ernten die Einwohner von
Sarajevo zwischen Eisengewirren und frischen Grabhügeln die baumlosen Wiesen
ab, sie bücken sich verstohlen und aufgeregt und sammeln die glänzenden Tiere
ein. Seit Monaten haben sie kein Fleisch mehr gegessen. Es hat geregnet, und so
lächeln die Frauen heute, als sie ihren Fang in den leergefegten Küchen ausschütten.
Und die Kinder lächeln, als sie sehen, wie die Schnecken über den Tisch
kriechen und herunterfallen. Auch Velida ist mit einem Beutel voller Schnecken
zurückgekommen. Sie hat sie heimlich gesammelt, in einem abgelegenen Garten,
sie schämt sich, weil sie sich als dermaßen hungrig zu erkennen gibt.
    Wir tauchen Brot in
den Kochtopf, es herrscht ein leicht süßlicher Geruch in der Küche. Schnecken,
unter der Zugabe von türkischen Gewürzen und bosnischem Essig in der
Instantbrühe aus den Hilfspaketen gekocht. Eine Delikatesse.
    Später sagt Velida,
dieses köstliche Essen sei schuld gewesen, es habe ihnen ein Glück
zurückgegeben, das sie seit langem nicht mehr gekannt hatten, es habe sie
getäuscht und ihnen nicht gut getan.
    Jovans Augen
leuchteten, und seine Wangen hatten nach Monaten von grauer, mit rauen Flecken
übersäter Haut nun wieder etwas Farbe.
    Nach dem Essen
zündete er sich eine Zigarette aus der Schachtel an, die Diego ihm geschenkt
hatte. Eine von den Drina, die mittlerweile in Buchseiten verpackt wurden, weil
Papier knapp war, und sie hatten natürlich mit den Büchern in kyrillischer
Schrift begonnen. Jovan tat es leid, dass seine Kultur sich so in Rauch
auflöste, aber nun ja, eine Zigarette nach einem Teller Schnecken war ein
traumhafter Luxus.
    Als wieder Ruhe
einkehrte, als Velida wieder

Weitere Kostenlose Bücher