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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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gewähren. Mochte sie für uns entscheiden, für uns alle.
    Ich trage tief in
meinem Körper einen von den Jahren harten Stein. Alle meine blinden Eier sind
nun Grabhügel aus frischer Erde, wie die auf 1992 datierten Toten.
    Diego ist es, der
Aska am Arm nimmt und wegzieht, er holt sie herein. Sie atmen mit dem Rücken an
der Wand, dicht beieinander. Sie keucht, den Hals zur kaputten Decke des Raumes
gereckt, und er sieht sie an. Vielleicht hat er sie auch mit genau dieser
Zärtlichkeit, mit genau dieser Sehnsucht angesehen, als sie zusammen im Bett
waren.
    Sollte ich Pietro
etwa davon erzählen?
    Von diesem innigen
Blick, der mir erneut alles nimmt? Sie vollführt eine letzte Geste, nimmt
Diegos Hand, zieht sie an sich und beißt hinein wie in einen Stofffetzen
zwischen den Zähnen, wie in eine Liebe, die dich verlässt.
    » Dosta … dosta  …«, stöhnt sie. »Genug, genug, nehmt
es mir ab …«
    Dann kommt endlich
jemand, eine Frau im Kittel und mit kurzen Wollstrümpfen, und nimmt sie mit.
    Alles geschieht nur
wenige Schritte von uns entfernt, hinter einem weißen Plastikvorhang. Auf dem
Weg zur Krankenliege warf Aska mir einen Blick zu, und diesen Blick werde ich
nicht mehr los, er ist wie eine Last, die mich niederdrückt. Es ist der reglose
Blick von Flüchtlingen, von Menschen, die sich von sich selbst trennen.
    Es geht ganz schnell.
Hinter dem weißen Plastikvorhang sind nur die Schatten von Gliedmaßen und
ungestümen Bewegungen zu erkennen. Askas Fuß zappelt in der Luft. Ich sollte
Pietro von diesem Fuß erzählen, von diesen Schatten, die eine Verlängerung
unserer Ängste und unseres Elends sind.
    Dann der Rücken der
Hebamme, ihre Ellbogen, sie scheint zu graben. Redet laut, stoßweise. Aska
jammert kaum.
    Wir stehen da, die
Augen fest auf die schwarzen Schatten auf diesem weißen Vorhang geheftet.
    Ruckartige
Bewegungen, Stimmen … Hände, die in einem Körper graben. Wie die Hände, die am
Flughafen von Butmir unterirdisch zu graben begannen, um ein Luftloch zu den unbesetzten
Gebieten zu finden.
    Und nun ist der Krieg
ganz und gar hier, auf diesem Vorhang, auf dem es Millionen Hände zu geben
scheint, die Hände des 6. April, von all den Menschen, die nach Frieden riefen.
Es sieht aus wie ein langer Rückzug im Schnee, Kolonnen erschöpfter Kämpfer
schleppen sich über diesen Vorhang.
    Die Frau gräbt, dehnt,
zieht, bindet ab.
    Wir lehnen reglos an
der Wand wie die Statuen unter der Ewigen Flamme.
    Sollte ich Pietro
erzählen, woran ich dachte, während er zur Welt kam?
    An die Sniper. An ihr
tragisches Leben. An das gefilmte Interview, das ich gesehen hatte.
    Der junge Kerl hat
hellblaue Augen und lächelt, er sagt Es ist wie Karnickelschießen, genauso. Und ich sehe das blaue Kind vor mir.
Es spielt mit einem Schlitten, zieht ihn an einer Schnur bergauf, das ist jedes
Mal eine ordentliche Plackerei, denn unten ist man im Nu, aber wieder oben …
Doch die Mühe lohnt sich. Es ist ein schöner, heller Tag, es liegt Neuschnee.
Weiß, das das Schwarz zugedeckt hat. Der Scharfschütze hat Pflaumenschnaps
getrunken, hat geraucht und die noch brennende Kippe weggeworfen. Dann hat er
wieder nach seinem Spaten gegriffen und nach seinem Gewehr. Seine Mutter hatte
ihn irgendwann zur Welt gebracht und getauft, der Scharfschütze trägt ein Kreuz
um den Hals, er glaubt an die göttliche Dreieinigkeit, an die von Großserbien.
So zumindest meint er es in Erinnerung zu haben, es ist zwar erst ein paar
Monate her, doch alles ist anders geworden, und er erinnert sich nicht mehr
genau, warum er mit den anderen in die Berge hinaufgestiegen ist. Er schießt auf
seine Heimatstadt, auf sein Wohnviertel. Er nimmt das Gewehr hoch, schaut durch
das Zielfernrohr und sucht … Er sucht gern, es verschafft ihm einen Kitzel, der
ihm von der Brust in den Bauch fährt und dann in die Hoden. Er entscheidet sich
für jenen Abhang, jenen schneebedeckten Weg, auf dem auch er als kleiner Junge
gespielt hat. Er sehnt sich zu jenen Tagen zurück, in seine Kindheit, wie alle
Menschen. Er bedauert nichts, denn als er durch den Schlamm marschierte, um auf
dem Weg in die Berge den Fluss zu überqueren, wusste er, dass er nicht mehr zurückkehren
würde. Es sind noch andere Kinder auf diesem Abhang zwischen zwei zerschossenen
Gebäuden, das Haus zur Linken war die Grundschule, in die auch er gegangen ist.
Für einen Augenblick kommt ihm seine Lehrerin wieder in den Sinn, die pašteta aufs Brot schmierte und ihm eine
Scheibe davon

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